*Traducido por el servicio de traducciones del parlamento alemán.

STÄNDIGES TRIBUNAL DER VÖLKER

Gründer: LELIO BASSO (ITALIEN)

Präsident Generalsekretär
FRANCO IPPOLITO (ITALIEN)
GIANNI TOGNONI (ITALIEN)

FREIER HANDEL, GEWALT, STRAFLOSIGKEIT UND VÖLKERRECHTE IN MEXIKO (2011-2014)

Schlussanhörung
Mexiko-Stadt, 12.-15. November 2014

URTEIL

GENERALSEKRETARIAT: FONDAZIONE BASSO
VIA DELLA DOGANA VECCHIA 5 – 00186 ROMA, ITALIEN
TEL: 0668801468 – FAX: 066877774
E-Mail: tribunale@internazionaleleliobasso.it – filb@iol.it
Website: http://www.internazionaleleliobasso.it

Im Schatten von Ayotzinapa

Die Schlussanhörung des Ständigen Tribunals der Völker (STV) – Kapitel Mexiko fiel in eine der sozial dramatischsten und institutionell kritischsten Phasen für die mexikanische Gesellschaft. Mit der Anwesenheit und dem Zeugnis dreier Vertreter der Studenten und der Angehörigen der in Iguala verschleppten jungen Menschen wurden die öffentlichen Sitzungen der Schlussanhörung des STV-Mexiko geschlossen. Die Vorfälle von Ayotzinapa sind bei all dem Leid, das sie verursacht haben, und der nachweislichen Mitwirkung von Staatsbediensteten sowie der stillschweigenden Unterstützung der Behörden nichts weiter als ein weiteres Kapitel in der langen Serie der von den Völkern Mexikos erlittenen Verletzungen ihrer Rechte auf Würde und auf Leben: sie verdeutlichen auf dramatische, greifbare und symbolische Weise, was derzeit vor sich geht und welche Bedeutung den Empfehlungen des STV zukommt. Diese Stellungnahme soll ein fester Bestandteil des Einsatzes und Kampfes sein, der sich im ganzen Land bemerkbar macht: das hier vertretene Urteil zu den Ursachen und den Verantwortlichen gilt von nun an auch als Verurteilung der Täter von Ayotzinapa und als Forderung nach Leben und Gerechtigkeit für diejenigen, die derzeit immer noch vermisst werden.

All das, was so mühsam während der dreijährigen Arbeit des Tribunals dokumentiert wurde, verdichtete sich in Iguala in wenigen Stunden der Barbarei. In diesem Reich der Straffreiheit, das Mexiko heute ist, gibt es Morde ohne Mörder, Folter ohne Folterer, sexuelle Gewalt ohne Vergewaltiger – eine Situation der permanenten Umgehung der Verantwortung, in der es scheint, als seien die zu Abertausenden verübten Massaker, Morde und systematischen Verletzungen der Völkerrechte stets Einzelfälle oder Randerscheinungen und keine echten Verbrechen, für die der Staat mitverantwortlich ist.

1. ALLGEMEINE EINFÜHRUNG

Auf die Ursprünge und die lange Geschichte des seit mittlerweile 35 Jahren tätigen Ständigen Tribunals der Völker (STV) sowie die Dutzenden von ihm verhandelten Fälle muss nicht im Einzelnen eingegangen werden. Die zahlreichen Veröffentlichungen hierzu sind problemlos über das Internet zugänglich (www.internazionaleleliobasso.it). Ausgehend von der Universellen Erklärung der Rechte der Völker (Algier, 1976) kam dem STV die Aufgabe zu, jenen Völkern eine Alternative zu bieten, die bei den (nationalen wie internationalen) Institutionen, die offiziell Recht und Gesetz der Staaten vertreten, keine Antwort auf ihre Anliegen finden. Das STV möchte sich zu einem Forum entwickeln, das die erlittenen Verletzungen sichtbar macht, zur Sprache bringt, schildert und die Ursachen und die Verantwortlichen der Verbrechen, mit denen Frauen und Männer mit unantastbaren (individuellen wie kollektiven) Rechten zu rechtlosen und ausgeplünderten Opfern gemacht werden sollen, untersucht, bewertet und dabei zu einem Urteil gelangt.

Da das STV naturgemäß nicht die Macht hat, seine Urteile in konkrete Strafen umzusetzen, bezieht es seine Legitimität aus zwei ergänzenden Merkmalen: a) der Fähigkeit, eine wirksame Vertretung der „Völker“ zu gewährleisten, denen bestimmte Rechte vorenthalten werden und die keine Hoffnung auf Anerkennung und Wiedergutmachung haben; b) der Heranziehung des bestehenden Rechts in einer Weise, dass Auslegungen und Urteile gewährleistet und vorangetrieben werden, bei denen die Opfer als Menschen mit Rechten anerkannt werden und die das Ziel verfolgen, den hierarchischen Vorrang der Rechte von Menschen und Völkern gegenüber dem Recht der Abkommen zur Regelung von Marktgütern als unantastbar anzusehen.

Wie in den zehn thematischen und themenübergreifenden Anhörungen, die wiederum aus 40 Voranhörungen hervorgingen, dokumentiert wurde, waren unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Zehntausende von Menschen betroffen. Dabei kam es auch zu einer aktiven Mitwirkung von Netzwerken von Fachleuten aus den verschiedenen die Verfahren betreffenden Disziplinen, wodurch (koordiniert durch das Generalsekretariat des STV und konkret durch Simona Fraudatario) sichergestellt wurde, dass nicht nur eine äußerst umfangreiche und hochwertige Dokumentation entstand, sondern auch drei Jahre lang eine regelrechte öffentliche Lehrschule für Recht in Betrieb war. So gesehen anerkennt das STV, wie es Andrés Barreda in seinem einleitenden Beitrag zur Schlussanhörung formulierte, worauf sich seine Legitimität maßgeblich gründet und dass es vielleicht der sicherste und wirksamste Weg ist, denjenigen ihre Rechte zurückzugeben, denen sie ungestraft entzogen wurden:

„Das Tribunal ist zu einem gemeinschaftlichen Raum geworden, nicht weil mit ihm ein übergeordneter Plan oder ein neuer Glauben definiert worden sei, an den wir uns halten müssten, sondern vor allem deshalb, weil ein echter, dem Verfahren innewohnender Kommunikationsprozess eröffnet wurde, der jedem einzelnen von uns, die wir diese Erfahrung machen, ermöglicht hat, sich zu verändern. Im Zuge dieser Erfahrung erschaffen wir uns gegenseitig neu und setzen dabei unsere Hoffnung wieder auf die Rolle, die die Worte, die Argumente und die Überlegungen spielen können, die gerecht sind und auf ethischen Prinzipien beruhen. Aus diesem Grund, und sei es nur vorübergehend, haben wir das Vertrauen in den anderen wieder hergestellt. Das Tribunal hat auch ermöglicht, voneinander zu lernen. Alles in allem hat es einen neuartigen Raum geschaffen, in dem wir unser Recht auf ein anderes Mexiko und unser Recht auf die Definition unserer eigenen Rechte einfordern können. Das Tribunal erwies sich nämlich als ein anfängliches, aktuelles Beispiel dafür, dass dieses bessere Mexiko bereits hier und jetzt existiert, und zwar als etwas unmittelbar Praktisches und Offenes, damit diejenigen von uns, die es wünschen, sich weiter darin engagieren können.“

In Bezug auf die besondere Zuständigkeit des STV für ein Thema, das in ausdrücklicher und aufgrund seiner Dramatik auch exemplarischer Weise die (konkreten und nicht primär theoretischen) Beziehungen zwischen der Verbindlichkeit der Wirtschafts- und Handelsabkommen und der Hierarchie der Menschen- und Völkerrechte betrifft, so kann das STV auf eine lange Erfahrung zurückblicken, die alle im Kapitel Mexiko behandelten Themen – wenngleich in anderen Zusammenhängen – umfasst. Zu erwähnen sind hierbei konkret die Gutachten über den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank (1988 bzw. 1994), die Straflosigkeit (1991), die Eroberung Amerikas und das Völkerrecht (1992), die Sitzungen über Kolumbien (2005-2008), die Urteile über die europäischen Großkonzerne in Lateinamerika und die Rolle der Europäischen Union (2006-2010) sowie über die Großkonzerne und den Agrochemiesektor (2011).

2. VERFAHREN UND GESCHWORENE

Die Schlussanhörung des Ständigen Tribunals der Völker über freien Handel, Gewalt, Straflosigkeit und Völkerrechte bildet den Abschluss eines langen Prozesses, der am 21. Oktober 2011 mit der Vorlage der Anklageschrift in einer öffentlichen Sitzung in der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) seinen Anfang nahm und in dessen Verlauf sieben thematische und drei themenübergreifende Anhörungen stattgefunden haben mit dem Ziel, die Komplexität und das dramatische Ausmaß der Verletzungen der Grundrechte der Völker, die im Laufe des vom STV konkret berücksichtigten Zeitraums (1982-2014) stattgefunden haben, systematisch zu untersuchen und darüber zu befinden.

Die ausführliche schriftliche, mündliche und visuelle Dokumentation der im Rahmen der Anhörungen des STV untersuchten Fälle und Berichte ist in der Vorbereitungsphase in ihrer Originalfassung und später anhand der Ausführungen der Berichterstatter und Ankläger, die in den öffentlichen Sitzungen der Schlussanhörung vorgebracht und erörtert wurden, berücksichtigt worden (siehe Anhang 1, Programm und Profil der Ankläger). Das thematische und geographische Spektrum, das die Anhörungen und die Geschworenen, die die Zwischengutachten erstellt haben, abdecken, spiegelt die starke Verbundenheit mit den unterschiedlichen Gegebenheiten und Bevölkerungsgruppen des Landes wider (die vollständige Fassung der Gutachten steht vor dem Abschluss und ist demnächst abrufbar über die Website der Stiftung Fondazione Basso: http://www.internazionaleleliobasso.it). Welche Bedeutung dies in methodischer und instrumenteller Hinsicht für die Rolle und die Geltung dieser Gutachten hat, wird weiter unten ausgeführt.

Die Geschworenen setzten sich aus folgenden Richterinnen und Richtern zusammen:

Philippe Texier, Frankreich (Vorsitzender)
Er ist ehrenamtlicher Richter des Kassationshofs Frankreichs. Von 1987 bis 2008 war er Mitglied und von 2008 bis 2009 Vorsitzender des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beim Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Er war von 1991 bis 1992 Direktor der Abteilung Menschenrechte von ONUSAL (VN-Mission in El Salvador) und von 1988 bis 1990 Berichterstatter der Menschenrechtskommission für Haiti.

Monsignore Raúl Vera, Mexiko
Bischof von Saltillo und prominenter Menschenrechtsvertreter in Mexiko. Gründer des Diözesanzentrums für Menschenrechte „Fray Juan de Larios“ in Saltillo. Er hat sich für die Arbeitnehmerrechte von Kohleminenarbeitern eingesetzt und sich für zentral- und südamerikanische Migranten engagiert, indem er die Einrichtung zweier Migrantenheime vorantrieb: „Casa Emaús“ in Ciudad Acuña und „Belén Posada del Migrante“ in Saltillo (beide Bundesstaat Coahuila). Er hat sich für die Rechte von Minderheiten wie Kindern und Frauen sowie für die politischen Gefangenen von Oaxaca, von San Salvador Atenco und von Ayutla de los Libres (Bundesstaat Guerrero) eingesetzt. Er nimmt an Bewegungen zum Schutz der Artenvielfalt teil. Ferner tritt für einen Dialog und die ökumenische Solidarität mit den Völkern der Welt ein. Er ist Leiter des Diözesanzentrums für Menschenrechte „Fray Juan de Larios“ und des Indigenen-Missionszentrums (Centro Nacional de Ayuda a las Misiones Indígenas – CENAMI). Im Bereich der zivilgesellschaftlichen Organisationen ist er Ehrenpräsident des Solidaritätsnetzwerkes gegen die Straflosigkeit (Red Solidaria Década Contra la Impunidad) sowie Präsident des Menschenrechtszentrums „Fray Bartolomé de las Casas“. Für seinen Einsatz für die Menschenrechte hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten.

Elmar Altvater, Deutschland
Ökonom, Professor an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Politikwissenschaft (Otto-Suhr-Institut), Gastprofessor an zahlreichen Universitäten (u. a. in Mexiko, Brasilien, Kanada und den USA). Er war Präsident der Lelio-Basso-Stiftung für die Rechte der Völker in Rom.

Luciana Castellina, Italien
Politikerin, Journalistin und Schriftstellerin. Ehemals Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens und der Partei der Proletarischen Einheit für den Kommunismus. Sie war mehrmals Abgeordnete des italienischen Parlaments und gehörte ab 1979 zwei Jahrzehnte lang dem Europäischen Parlament an. Sie war stellvertretende Vorsitzende der Delegationen für die Beziehungen zu den Ländern Süd- bzw. Mittelamerikas.

Graciela Daleo, Argentinien
Seit 1996 Mitglied des Freien Lehrstuhls für Menschenrechte an der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität von Buenos Aires. Überlebende des geheimen Konzentrationslagers, das während der Militärdiktatur (1976-1983) in der Schule für Kriegsflottenmechanik (Escuela de Mecánica de la Armada) in Buenos Aires eingerichtet wurde. Sie ist Mitglied einer Gruppe juristisch-politischer Aktivisten, die sich in Argentinien in verschiedenen Gerichtsverfahren aufgrund massiver Menschenrechtsverletzungen engagieren.

Alda Facio, Costa Rica
Juristin und Schriftstellerin. Sie ist ständige Beraterin von „Asociadas por lo Justo“ (JASS), einer internationalen feministischen Organisation zur Unterstützung örtlicher Frauenbewegungen in ihrem Kampf um soziale Gerechtigkeit. Sie wurde kürzlich vom VN-Menschenrechtsrat in die fünfköpfige Arbeitsgruppe für die Frage der Diskriminierung von Frauen im Recht und in der Praxis gewählt. Sie ist Gründerin und akademische Direktorin des Women’s Human Rights Education Institute an der Universität Toronto und Dozentin für Menschenrechte und Genderfragen an der Friedensuniversität der Vereinten Nationen. Sie war Gründerin und Direktorin des Women’s Caucus for Gender Justice, einer Organisation, der sich über 800 nichtstaatliche Organisationen aus aller Welt anschlossen, um sich für die Aufnahme einer Geschlechterperspektive in das Römische Statut einzusetzen.

Daniel Feierstein, Argentinien
Forscher des Nationalen Rates für wissenschaftliche und technologische Forschung (Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas – CONICET), der an der Universidad Nacional de Tres de Febrero (Argentinien) angesiedelt ist. Gründer und Leiter des dortigen Forschungszentrums für Völkermord. Er ist Inhaber des Lehrstuhls „Analyse von Völkermord als gesellschaftliche Praxis“ an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Buenos Aires. Vor kurzem wurde er zum Präsidenten der Internationalen Vereinigung von Völkermordforschern (IAGS) gewählt. Er war Gastprofessor an Universitäten in Spanien, den USA, Deutschland, Uruguay und weiteren Ländern.

Juan Hernández Zubizarreta, Spanien
Promovierter Jurist und Dozent an der Universität des Baskenlandes-EHU. Er forscht und publiziert zu der Verbindung zwischen transnationalen Unternehmen und der neoliberalen Globalisierung, Menschenrechten und der internationalen Justiz und hat bereits in verschiedenen Eigenschaften am Ständigen Tribunal der Völker teilgenommen. Er war Mitglied des Wirtschafts- und Sozialrates des Baskenlandes und Direktor des Instituts für Arbeitsbeziehungen an der Universität des Baskenlandes-EHU.

Carlos Martín Beristáin, Spanien
Arzt und promovierter Sozialpsychologe. Professor des Europäischen Masterstudiengangs Internationale Humanitäre Hilfe. Er war Koordinator des Berichts „Guatemala: Nunca más“ („Guatemala: Nie wieder“) und Berater der Wahrheitskommissionen in Peru, Paraguay und Ecuador. Er hat bei Peace Brigades International als Berater für psychische Gesundheit in El Salvador, Guatemala und Kolumbien gearbeitet. Er arbeitet zudem seit 25 Jahren mit Gewalt- und Kriegsopfern in verschiedenen Konfliktländern, mit Menschenrechtsgruppen und vertriebenen oder auf der Flucht befindlichen Gemeinschaften sowie Überlebenden von Folter und Angehörigen von verschwundenen Personen. Er war Gutachter für die medizinische und psychosoziale Beurteilung von sechs Fällen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er war in Bezug auf die Arbeit mit Opfern in mehreren Fällen Berater des Internationalen Strafgerichtshofs. Er ist Autor zahlreicher Bücher über psychosoziale Arbeit und die Betreuung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen.

Antoni Pigrau Solé, Spanien
Professor für internationales öffentliches Recht an der Universität Rovira i Virgili (Tarragona). Seit Dezember 2007 ist er Direktor des Zentrums für umweltrechtliche Studien in Tarragona (CEDAT) (www.cedat.cat) sowie seit 2009 Herausgeber des Katalanischen Journals für Umweltrecht (www.rcda.cat). Er ist stellvertretender Leiter des Internationalen Katalanischen Instituts für den Frieden (ICIP) (www.icip.gencat.cat). In Spanien ist er Berichterstatter für das Yearbook of International Humanitarian Law, das seit 1998 vom TMC Asser Instituut in Den Haag (Niederlande) herausgegeben wird. Er forscht auf dem Gebiet der Menschenrechte, des internationalen Strafrechts und des Umweltrechts.

Silvia Rodríguez, Mexiko
Gebürtige Mexikanerin, lebt seit 1974 in Costa Rica. Sie ist emeritierte Professorin des Instituts für Umweltwissenschaften der Universidad Nacional de Costa Rica. Sie setzt sich für eine Wiedergewinnung der kollektiven Kontrolle über die biologische Vielfalt ein. Ihre kritische Arbeit hat gezeigt, dass die Verabschiedung privatisierungsfreundlicher Übereinkommen und Gesetze über geistiges Eigentum durch die Staaten auf den Druck internationaler Konzerne und US-amerikanischer Interessen zurückzuführen ist. Mit ihren Forschungsarbeiten und öffentlichen Beiträgen zählt sie zu den wichtigsten Vertreterinnen der Freihandelskritik in Costa Rica.

Nello Rossi, Italien
Derzeit stellvertretender Staatsanwalt in Rom. Seit 2007 ist er für die Koordinierung der Arbeitsgruppen für Wirtschafts- und Computerkriminalität in der italienischen Hauptstadt verantwortlich. Gleichzeitig gehört er als Vertreter des Justizministeriums der FATF (Financial Action Task Force) der OECD an. Von 2002 bis 2007 war er Strafrichter am Kassationshof und dabei zuständig für organisierte Kriminalität, Vergehen gegen die öffentliche Verwaltung, Auslieferungen und Europäische Haftbefehle. Rund 15 Jahre lang (bis 2012) war er Mitherausgeber der von der Vereinigung „Magistratura democratica“ betriebenen juristischen Fachzeitschrift Questione Giustizia. Er ist Autor zahlreicher Artikel und Bücher zum Strafrecht und Strafprozessrecht.

3. DIE ABHÄNGIGKEIT MEXIKOS VON DEN VEREINIGTEN STAATEN UND DIE ROLLE DES NORDAMERIKANISCHEN FREIHANDELSABKOMMENS (NAFTA)

Um einen allgemeinen Bezugsrahmen für die Anhörungsverfahren herzustellen, ist es unerlässlich, auf den zeitlichen Ablauf, die Art und Weise und die allgemeinen Auswirkungen des Eintritts Mexikos in die Welt des Freihandels bis hin zu seiner Verwandlung in ein wahres Laboratorium auf regionaler und globaler Ebene einzugehen. Ohne die in den thematischen Anhörungen dargelegten Analysen erschöpfend behandeln zu wollen, sollen die vier folgenden Aspekte untersucht werden:

1. Der Wandel der Produktionsstruktur in Mexiko
2. Die neoliberalen Veränderungen in Mexiko und das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA)
3. Die Entstehungsgeschichte der kriminellen Wirtschaft und des Drogenhandels in Mexiko
4. Die kriminelle Wirtschaft und die Wirtschaftskriminalität

3.1. Der Wandel der Produktionsstruktur in Mexiko

Der größte durch den Freihandel herbeigeführte wirtschaftliche Schaden war die Deindustrialisierung des (vergleichsweise mächtigen) verarbeitenden Gewerbes des Landes, das über wichtige Wertschöpfungsketten verfügte, die im Laufe von 150 Jahren aufgebaut wurden. Dieses wurde unversehens verdrängt durch einen aggressiven Reindustrialisierungsprozess, der vor allem die Teilfertigungsindustrie (die sog. Maquiladoras), jedoch auch strategische Industriezweige transnationaler, nichtmexikanischer Prägung hervorbrachte (nämlich eine der weltweit mächtigsten Automobilbranchen oder die Elektronik- und IT-Industrie).

Eine weitere wesentliche Entwicklung ist der Extraktivismus, der sich im Zuge des Freihandels nicht mehr hauptsächlich auf die Ölförderung beschränkt, sondern eine immer komplexere Ausbeutung von Energieträgern (darunter herkömmliches Erdgas, Schiefergas, Wind, Sonnenenergie), einen immer intensiveren und komplexeren Bergbau und eine ebenso verheerende Ausbeutung von Wasserressourcen mit sich bringt. Und dies alles, um die US-amerikanischen Märkte zu versorgen und die strategischen natürlichen Ressourcen Öl- und Gaskonzernen aus den USA, Energiekonzernen aus Spanien und Bergbauunternehmen aus Kanada zu überlassen.

Die traditionelle Landwirtschaft und die Ernährungssouveränität, die vor der Unterzeichnung des NAFTA-Abkommens existierten, wurden durch den fehlgeleiteten Aufbau einer exportorientierten Landwirtschaft verdrängt. Mexiko hat seine Souveränität in den meisten Schlüsselbereichen eingebüßt: Getreide, Hülsenfrüchte, Gemüse, Obst, Fleisch, verarbeitete Lebensmittel usw. Heute importiert das Land zehn Millionen Tonnen Mais und richtet seine landwirtschaftliche Produktion am Geschmack der US-amerikanischen Marktes aus: Gemüse, Beeren, Avocados, tropische Früchte, Marihuana, Mohn usw.

Alle Programme zur Stützung der ländlichen Erzeugung wurden eingestellt und die wichtigsten Gesetze zum Schutz des kollektiven Landbesitzes (Ejido) aufgehoben. Damit wurde eine Privatisierung vorangetrieben, die vor allem im Kernland immer stärker zunimmt. Dennoch befindet sich der Großteil des ländlichen Grundbesitzes im Norden und Süden des Landes immer noch in den Händen von Gemeinschaftseigentümern, die sich weigern, ihr Land als Privatbesitz eintragen zu lassen.

Symbolcharakter hat in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die ausdrücklich von der NAFTA geforderte Auflösung der Ejidos bereits vor ihrer Besprechung und Genehmigung stattfand und dass den indigenen Völkern ihre Rechte auf gemeinschaftliches Land entzogen wurden. Auf diese Weise wird dem Verlust der kollektiven Landnutzung, die ein grundlegendes Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung in Mexiko darstellt, Tür und Tor geöffnet.

Das Land wurde zugunsten neuer strategischer Industriekorridore, die zwischen dem Osten der USA und dem pazifischen Becken eingerichtet wurden, umstrukturiert, wozu einige wichtige Industriehäfen an der mexikanischen Pazifikküste neu genutzt oder ausgebaut wurden. Zu diesem Zweck wurde das sehr aggressive und nicht regulierte System des intermodalen Land- und Seeverkehrs geschaffen, das speziell für die nach dem Just-in-time-Prinzip arbeitenden Betriebe in Mexiko konzipiert wurde, was dazu geführt hat, dass die mexikanischen Straßen zu den gefährlichsten der Welt zählen.

Der nationale Handel, die großen staatlichen Handelsgesellschaften auf dem Land (Conasupo) und die kleinen und mittleren Erzeugungs- und Handelsbetriebe im Familienbesitz wurden zerstört und durch stark monopolistische Unternehmen vor allem transnationaler Prägung ersetzt, was zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen hat. Hinzu kommt die Zerstörung des Finanzsystems. Der zerstörte Industrie- und Agrarbinnenmarkt wich einem Markt, der Betriebsmittel aller Art und vor allem US-amerikanische Lebensmittel importierte, während zugleich die Exportwirtschaft gefördert wurde.

Seit 2012 zählt Mexiko zu den Ländern, in denen relativ gesehen die niedrigsten Löhne der Welt gezahlt werden. Dabei wird ein Überangebot an Arbeitskräften ausgenutzt, auch wenn es perfekt kaschiert wird. Gleiches geschieht mit der tatsächlichen Arbeitslosigkeit, die im Falle der Gelegenheits- oder informellen Arbeitnehmer (drei von vier Arbeitnehmern in Mexiko sind informell) geschönt wird. Hinzu kommt noch der Migrationsstrom in Richtung USA (10,64 Millionen der 15,2 Millionen seit Unterzeichnung des NAFTA-Abkommens zur Auswanderung gezwungenen Mexikaner), der den größten Migrationsstrom der Welt darstellt.

Verschleiert wird die Arbeitslosigkeit auch durch all die Arbeitnehmer, die in der kriminellen Wirtschaft, insbesondere im Drogenhandel, tätig werden, oder die massive Verstärkung von Polizei, Marine und Armee, deren Personal anwächst, um – wie es heißt – die Ausbreitung der kriminellen Wirtschaft aufzuhalten.

Wie ist es möglich, dass all die erwähnten Umstände nicht zu einem völligen Zusammenbruch der mexikanischen Wirtschaft geführt haben? Des Rätsels Lösung liegt nicht allein in der Umstrukturierung der Einnahmequellen, die sich das neue Mexiko erschlossen hat, sondern auch in den Überweisungen von Milliarden von Dollar (22 Milliarden jährlich) durch die Migranten und die Milliarden von Dollar, die durch kriminelle Tätigkeiten erzielt werden: Handel mit Drogen, chemischen Grundstoffen, Waffen, mit mexikanischen wie auch durchreisenden Migranten, Frauen, Kindern, Organen, Kinderprostitution usw. Hinzu kommen noch die Einnahmen, die durch informelle Tätigkeiten erzielt werden.

Die ständige Kontrolle der mexikanischen Wirtschaft, Politik und Streitkräfte durch die USA hat zudem die Etablierung von Manipulation, Wahlbetrug und Korruption als entscheidende Strukturmerkmale des mexikanischen Staates begünstigt. Die Kombination dieser Faktoren ist verknüpft mit der Entwicklung des Neoliberalismus und der Unterzeichnung von Freihandelsabkommen durch Mexiko. Ohne diese Kombination von Faktoren lässt sich unmöglich verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass die illegale Wirtschaft nach verschiedenen Expertenschätzungen 40 % des mexikanischen BIP ausmacht und dass mexikanische Drogenbanden zu den größten kriminellen Vereinigungen der Welt zählen.

3.2. Die neoliberalen Veränderungen in Mexiko und das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA)

Die im Laufe der Schlussanhörung vorgebrachten Aussagen lassen die Feststellung zu, dass die Einbindung Mexikos in die neoliberale Globalisierung mit einem unermesslichen Anwachsen des Leids für das mexikanische Volk verbunden ist. Die neoliberale Globalisierung verursacht ein starkes Ungleichgewicht zwischen Markt und Menschenrechten. Die Wirtschaft globalisiert sich und die demokratischen Institutionen, die die Rechte der Mehrheiten schützen, nehmen eine untergeordnete Randstellung ein; die globalisierten Institutionen ersetzen die demokratische Kontrolle durch eine undurchsichtige Regulierung des globalen Handels.

Das neoliberale Recht schützt die Anhäufung von Reichtum und die Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht, während es sich andererseits der „Verlierer“ entledigen möchte. Außerdem gründet es sich auf ein System der Straflosigkeit, das zugunsten der multinationalen Unternehmen und des Kapitals aufgebaut wurde. Ungleichheit und Asymmetrie sind dabei wesentliche Bestandteile.

Die mexikanische Regierung hat sich daran beteiligt, weite Teile der städtischen wie auch ländlichen Bevölkerung, die als „unnötig“ oder „überflüssig“ angesehen wurden, durch wirtschaftliche Mittel zwangsweise zu verändern und sich ihrer zu entledigen. Die mexikanischen Regierungen haben die Macht des Staates eingesetzt, um diese Entledigung durch direkte Maßnahmen zur Entziehung von Produktionsmitteln oder durch verzerrende Eingriffe in die Subsistenzwirtschaft zu beschleunigen.

Mexiko stellt aus vielerlei Gründen einen Musterfall dar. Zunächst einmal war es das erste Land, das die globale Wirtschaftspolitik zu spüren bekam, die vom internationalen Finanzkapital ab dem Ende der 80er Jahre durchgesetzt wurde. Am 1. Januar 1994 trat nämlich das NAFTA-Abkommen in Kraft, das erste Experiment zur Schaffung eines Raums für den freien Handelsaustausch und der bedingungslosen Garantien für Kapitalinvestitionen.

Es handelt sich um ein Abkommen, das als besonderes Merkmal eine immense wirtschaftliche Ungleichheit der Unterzeichnerstaaten aufweist: auf der einen Seite die gewaltige Wirtschaft der Vereinigten Staaten und die halbwegs robuste Wirtschaft Kanadas und auf der anderen Seite die äußerst schwache Wirtschaft Mexikos.

Außerdem ließ sich Mexiko mit diesem Abkommen die Chance entgehen, an den Anstrengungen einiger Länder Lateinamerikas zur Schaffung eines Kooperationsrahmens zwischen sich eher gleichenden Ländern mitzuwirken, wie etwa der ALBA und dem Mercosur.

Seit 1994 versucht das Finanzkapital, insbesondere die US-Regierung, die es im Wesentlichen repräsentiert, auch in anderen Regionen Handelsabkommen ähnlichen Zuschnitts wie das NAFTA einzuführen. Gegenwärtig propagieren die Vereinigten Staaten neue Handelsabkommen, die noch strikter sind, so etwa das Transpazifische Partnerschaftsabkommen (TPP) mit einigen Pazifik-Anrainerstaaten oder die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Beide befinden sich in der Verhandlungsphase, stoßen aber auf nicht unerheblichen Widerstand in der Bevölkerung und den Parlamenten.

Das NAFTA ist Teil dieses rechtlich-politischen Geflechts der Dominanz. Es gibt keine Schnittstelle zwischen Menschenrechten und Konzernrechten; im System zum Schutz der Menschenrechte ist die Normenhierarchie bzw. Normenpyramide eindeutig verletzt worden.

Man muss sich klar vor Augen führen, dass das NAFTA-Abkommen und die anderen neoliberalen Institutionen nicht auf soziale Gerechtigkeit abzielen. So ist insbesondere das NAFTA mitnichten ein Abkommen zwischen den Menschen der drei nordamerikanischen Länder, um auf der Grundlage ihrer komparativen Vorteile vom Austausch von Gütern und Dienstleistungen gegenseitig zu profitieren. Es handelt sich um Abkommen, die den rechtlichen Status der großen Investoren erhöhen und gleichzeitig die wirtschaftliche Macht des Staates in den Dienst ihrer Interessen stellen und dabei die Verpflichtung und die Optionen der Nationalstaaten zum Schutz der Bürger untergraben.

Ein zentrales Anliegen dieser Abkommen ist die „Entwaffnung“ der Völker gewesen, indem man sie ihrer Werkzeuge, die ihnen die nationale Souveränität und ein legitimer Staat bieten können, nämlich ihrer Identität, ihrer Ausdrucksmittel, ihrer Widerstandskraft und ihrer Gestaltungsfähigkeit, beraubte. Im Falle Mexikos hat die Demontage des Staates gegenüber den internationalen Konzerninteressen tragische Züge angenommen. Die Beschneidung der wirtschaftlichen Souveränität begann vor vielen Jahren und ist auf verschiedenen Wegen erfolgt. In manchen Fällen wurde schlicht darauf verzichtet, diese Souveränität auszuüben, indem man etwa die Wirtschaftssteuerung aufgab; in anderen Fällen wurde sie abgetreten, so bei den Bodenschätzen und der Energiegewinnung; in weiteren Fällen wiederum entglitt der Regierung die Fähigkeit, sie auszuüben, so etwa beim Verlust der Gebietskontrolle angesichts des sich unaufhaltsam ausbreitenden Drogenhandels. Die Regierung Peña Nieto betreibt eine rigorose Aushöhlung des Staates und verzichtet – ob durch Abtretung, Versäumnis oder Unvermögen – nach und nach auf die Souveränität in allen Bereichen.

Eine Analyse der verheerenden Auswirkungen dieses ersten, auf dem Rücken der Mexikaner ausgetragenen Experiments ist deshalb für die ganze Welt von höchstem Interesse. Genau hier wurden nämlich zum ersten Mal die Rechtsvorschriften und die nationale Wirtschaftspolitik mit den Vorgaben des Abkommens in perfekten Einklang gebracht. Auf diese Weise wird jegliche Entscheidungsgewalt der Institutionen, die die Interessen des mexikanischen Volkes vertreten, eliminiert. Die Sphäre des öffentlichen Rechts verschwindet; der Staat wird zu einer Instanz, die die privaten Geschäfte der Investoren fördert und absegnet.

Besonders gravierend ist die beschleunigte Demontage der mexikanischen Verfassung, die zum Ende der Revolution 1917 verabschiedet wurde und anderen Länder als wichtiges Vorbild diente, da sie als erste soziale Rechte einführte und das private Eigentumsrecht dem Allgemeininteresse unterordnete.

Angesichts der grenzüberschreitenden Straflosigkeit, die das NAFTA sanktioniert, kann es als ausgesprochen rücksichtsloses Abkommen bezeichnet werden. Die strukturelle Rücksichtslosigkeit des kapitalistischen Systems – das die Anhäufung von Reichtum einiger weniger auf Kosten der Verarmung und ökologischen wie kulturellen Zerstörung der Völker ermöglicht – zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Abkommen.

Das NAFTA kollidiert frontal mit den internationalen Menschenrechtsnormen. Hierbei kann man sich auf den Vorrang von Bestimmungen berufen, die in der Normenhierarchie höher angesiedelt sind; so legt Artikel 53 des Wiener Übereinkommens fest, dass ein Vertrag, der im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des Völkerrechts steht, nichtig ist. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wie auch andere internationale Abkommen und Übereinkünfte über Menschen- und Umweltrechte sind als zwingende Normen und als allgemeines Völkerrecht anzusehen.

Die Abkommen sind auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen und es ist festzustellen, ob bei ihrem Abschluss und ihrer Billigung nicht zu behebende Mängel vorliegen, die ihre Nichtigkeit zur Folge haben.

Es müssen die territoriale Zuständigkeit der nationalen Gerichte wieder hergestellt, die Rolle der Parlamente wieder gestärkt und vom Volk ausgehende Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht werden, um für die Einhaltung der internationalen Normen zu sorgen und auf diese Weise die erhebliche Asymmetrie zwischen den Handels- und Investitionsvorschriften und den internationalen Menschenrechtsnormen aufzuheben und dadurch die Rechte der Menschen und der Völker den Interessen der Großunternehmen voranzustellen.

3.3. Die Entstehungsgeschichte der kriminellen Wirtschaft und des Drogenhandels in Mexiko

Mexiko ist in eine starke Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten geraten, die seinen politischen und wirtschaftlichen Kurs bestimmt hat. Selbst für die Drogenproduktion in Mexiko spielt das Verhältnis zu den USA eine Rolle. Opium wurde zwar schon von chinesischen Einwanderern für den persönlichen Gebrauch eingeführt, doch änderte sich das Ausmaß während des Zweiten Weltkriegs, als „ausgerechnet die Regierung der USA den Anbau der Pflanze in Mexiko förderte, da das Land von seinen Versorgungsquellen in Asien nun abgeschnitten war“. Ziel des Anbaus war die Herstellung von Morphium zur Linderung der Schmerzen bei verwundeten Soldaten. Später, während des Koreakriegs und der ersten Phase des Vietnamkriegs, wurde die Erzeugung aufrechterhalten und verdrängte andere mexikanische Feldfrüchte wie Äpfel, Mais oder Tomaten. Dies betrifft vor allem die als „goldenes Dreieck“ bekannte Region, in der die Bundesstaaten Sinaloa, Durango und Chihuahua aneinandergrenzen.

Wenig später kam der Marihuanaanbau hinzu; die Verantwortlichen für beide Erzeugnisse waren lokale Machthaber („caciques“), die mit den damaligen Politikern in enger Verbindung standen. Mit der Zeit bildeten sich die „Drogenkartelle“, die nunmehr einen unerlaubten, nicht mehr legalen Anbau betrieben. Hierbei handelte es sich um das Tijuana-Kartell, das Juárez-Kartell und das Golf-Kartell, die heute noch existieren und durch das Eingehen von Allianzen mit den kolumbianischen Kartellen und dem damit verbundenen Einstieg in den Kokainhandel an Macht gewannen.

Die Kartelle begannen daraufhin, sich verschiedenen politischen Gremien anzuschließen, um zunächst die Wahlen der Bürgermeister zu unterstützen. Als diese Personen nun politisch aufstiegen (ob in gewählten Ämtern oder nicht), fand der Drogenhandel in Ihnen Verbündete auf einer immer höheren Ebene der mexikanischen Politik.

Die Drogenkartelle sind außerdem auf Geldwäsche angewiesen, weshalb sie begannen, sich mit Unternehmern und Finanziers zusammenzuschließen. Wenn man dazu noch berücksichtigt, dass das Wirtschaftsmodell der abhängigen Industrialisierung nicht genügend reguläre Arbeitsplätze schuf, die informelle Beschäftigung zunahm und zudem die Kaufkraft sank, ist verständlich, dass das Geld aus dem Drogenhandel allmählich auch weite Teile der Gesellschaft infiltrierte.

Schließlich sind die Mitglieder der Kartelle auch auf Personenschutz und eine Gebietsüberwachung zur Kontrolle der Umschlagplätze („plazas“) angewiesen, wozu sie gut organisierte und loyale Auftragskiller engagieren. Dies hat dazu geführt, dass das Leben der Menschen in vielen Gegenden immer stärker unter Kontrolle steht und sich durch die verbrecherischen Strukturen eine starke organisierte Kriminalität entwickelt hat.

3.4. Die kriminelle Wirtschaft und die Wirtschaftskriminalität

Eines der besonderen und verheerenden Merkmale des Falles Mexiko ist die Existenz einer „kriminellen Dimension“ der Wirtschaft, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie mittlerweile jeden Bereich des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens beeinträchtigt und aus dem Gleichgewicht bringt.

In Mexiko koexistieren nämlich eine „kriminelle Wirtschaft“ gigantischen Ausmaßes und eine mit ihre verschränkte diffuse und tiefgreifende „Wirtschaftskriminalität“, die im Verbund all die negativen Auswirkungen der im Land eingeleiteten neoliberalen Maßnahmen noch verstärken und unkontrollierbarer machen.

Der „kriminellen Wirtschaft“ kommt dabei besondere Bedeutung zu. Die weitläufige und verzweigte kriminelle Wirtschaft in Mexiko bezieht ihre Gewinne aus einem breiten Spektrum illegaler Tätigkeiten: dem lukrativen Drogenhandel durch die verschiedenen Kartelle, die im Land tätig sind und enorme illegale Gewinne erzielen; dem Schmuggel von Schusswaffen; der Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten durch Entführung, Erpressung und Nötigung; der Wiedereinschleusung der vor allem in den USA erzielten Erträge aus dem Drogenhandel und anderen illegalen Tätigkeiten.

Die Vorgehensweise der in der kriminellen Wirtschaft tätigen Subjekte ist folgende: systematischer Einsatz von Gewalt bei inneren Konflikten und mit dem Ziel, die verschiedenen Formen des Widerstands in der Bevölkerung zu brechen, sowie eine ebenso systematische Bestechung von politischen Mandatsträgern und Staatsbeamten.

Die tragische Bilanz der sich beharrlich ausbreitenden Kriminalität, die seit den 80er Jahren geradezu eskaliert, sind eine schier endlose Serie von zivilen Opfern und die physische Beseitigung von Oppositionellen, jedoch auch der Verlust über die Kontrolle weiter Teile des Staatsgebiets durch die staatlichen Institutionen und das Herrschen einer flagranten Straflosigkeit selbst bei den abscheulichsten Verbrechen.

Wie bereits gesagt wurde, besteht eine regelrechte „kriminelle Wirtschaft“ enormen Ausmaßes und mit brutalen und abscheulichen Methoden parallel zu einer diffusen „Wirtschaftskriminalität“, der Kriminalität von Tätern mit weißem Kragen.

Diese Wirtschaftskriminalität stößt in Mexiko auf sehr wenige Hindernisse, da Vorschriften zur Regulierung von Monopolen, wirksame Regeln für die Geschäftstätigkeit der Banken und die finanzielle Transparenz, Instrumente zur geeigneten Unterbindung der Geldwäsche und Möglichkeiten für Eingriffe in den Finanzmarkt so gut wie nicht vorhanden sind.

Es trifft zwar zu, dass nirgendwo auf der Welt die Instrumente zur Kontrolle und Bekämpfung von Wirtschaftsdelikten die gewünschte Wirksamkeit entfalten, doch stellt die Tatsache, dass sie in vielen Staaten vorhanden sind und auch unabhängige Exekutivbehörden bestehen, die für ihre Durchsetzung zu sorgen haben, zumindest eine erste Hürde dar, die auf Wirtschaftskriminelle abschreckend wirkt.

In Mexiko scheint dieses erste Hindernis zur Eindämmung der häufigsten Wirtschafts- und Verwaltungsdelikte (Korruption, Amtsmissbrauch durch Staatsbeamte, Steuerdelikte, Geldwäsche) nicht zu existieren oder unwirksam zu sein. Die Bilanz der tatsächlichen Strafverfolgung fällt jedenfalls äußerst negativ aus und offenbart eine enorme Zahl von Fällen, die nicht geahndet werden.

Luis Hernández Navarro brachte es vor diesem Tribunal sehr treffend auf den Punkt, als er sagte: „Mexiko ist wie ein weiterer Bundesstaat der USA, aber ohne deren Gesetze und Vorschriften“.

In Mexiko finden die Mindestvorschriften, die in den USA, in Europa und anderen Teilen der wirtschaftlich entwickelten Welt für die Wirkungsweise des Marktes für Wirtschaftsgüter und Finanzdienstleistungen gelten, keine Anwendung, und deshalb können die multinationalen Unternehmen von enormen Steuerbefreiungen profitieren, haben relativ freie Hand, um die in Mexiko erwirtschafteten Gewinne außer Landes zu schaffen, entstehen prekäre Billigarbeitsplätze und sind strikte Rechtsvorschriften zur Verhinderung von Monopolen praktisch nicht vorhanden.

Angesichts dessen ist nachvollziehbar, warum die großen im Land tätigen Wirtschaftskonzerne kein echtes und dringendes Interesse an der Ausmerzung der „kriminellen Wirtschaft“ in Mexiko haben, mit der sie ja nie in offenen Widerspruch geraten, und warum sie es jahrzehntelang akzeptiert haben, mit dem Drogenhandel und seinen grässlichen Verbrechen in einer perversen Komplementärbeziehung zu leben.

Die einzigen Stimmen des Protests und die einzigen mutigen Entgegnungsversuche kamen aus den Reihen der Erpressten und Unterdrückten und der sich mit ihnen solidarisierenden Organisationen. Wie wir alle wissen, wurden diese Versuche stets blutig unterdrückt.

In der Haltung der wirtschaftlichen Eliten liegt einer Gründe für die Tatenlosigkeit der Strafjustiz im Land, die in einen Zustand der tiefen Ohnmacht versetzt wurde, und auch dafür, dass die Bekämpfung des Drogenhandels verkehrterweise den Militärs und der Marine übertragen wurde, was zu jener langen Serie von Übergriffen, Gewalt und Verbrechen geführt hat.

4. DAS AUFBEGEHREN DES SCHMERZES IN MEXIKO

Das Ständige Tribunal der Völker hat sich im Laufe seiner dreijährigen Arbeit in Mexiko mit etwa 500 Fällen von individuellen und kollektiven Menschenrechtsverletzungen, Missständen und den massiven Auswirkungen auf einen großen Teil der Bevölkerung befasst, durch welche die Rolle des Staates als Instanz zur Regulierung von Konflikten und zum Schutz der Menschenrechte infrage gestellt wird und die eine dramatische Situation offenbaren – oftmals noch leise und verhalten, manchmal aber auch wie ein herzzerreißender Schrei, der gehört werden will.

Einleitung

Das horrende Ausmaß des in diesem Verfahren vor dem STV geschilderten Schreckens ist erschütternd. In eine solche Erschütterung wurden auch die mexikanische Gesellschaft und die Welt durch die gewaltsame Verschleppung und außergerichtliche Hinrichtung von 46 angehenden Lehrern („normalistas“) aus Ayotzinapa versetzt. Was das STV beabsichtigt, ist die Anerkennung der Opfer, Angehörigen und Überlebenden in diesem und Tausenden von anderen im Land erlebten Fällen sowie auch derjenigen Menschen, die in den Anhörungen etliche weitere Fälle von Verletzungen des Rechts auf ein menschenwürdiges Leben, auf Land, auf Arbeit, auf den Schutz der natürlichen Ressourcen und der Natur, deren Teil wir alle sind, geschildert haben. Eine Untersuchung all dieser erlebten Fälle zeigt, dass Mexiko an einem Scheideweg steht, ohne weiteren Aufschub handeln muss und sich nicht mehr dahinter verstecken kann, dass die Probleme einfach umgangen, auf Einzelfälle heruntergespielt oder die Rolle des Staates und die Verantwortung seiner politischen Eliten unsichtbar gemacht werden. Diese Situation stellt nicht nur eine Tragödie von heute dar, sondern setzt auch die Zukunft der Gesellschaft ernsthaft aufs Spiel. Das STV ruft den Staat, die Gesellschaft und die Länder, die der mexikanischen Politik nahestehen oder ihr verbunden sind und von denen einige für die Situation des Landes direkt mitverantwortlich sind, dazu auf, Antworten zu geben, die dieser Tragödie gerecht werden. Zugleich würdigt es die zentrale Rolle der Opfer, der Gesellschaft und der Völker, die das Wesen und den Reichtum dieses Landes mit ausmachen, und ihre Formen des Widerstands, über die dieses Tribunal berichtet und die es als Grundlage für jedweden Prozess zum Wiederaufbau der sozialen Strukturen ansieht.

Strukturelle Gewalt, Gewalt gegen die Umwelt und direkte Gewalt vor dem STV Mexiko

Die vor diesem Tribunal verhandelten Menschenrechtsverletzungen, Drohungen und Missstände beziehen sich sowohl auf die Rechte der Völker auf ein menschenwürdiges Leben, auf die Beziehung zur Natur und die Umweltzerstörungen, als auch auf die Ungleichbehandlung, die Prekarisierung und die Armut, die zusammen eine Verschlechterung der Lebensbedingungen mit sich bringen, sowie auf Formen der direkten Gewalt gegen Menschen, bestimmte Bevölkerungsgruppen, Menschenrechtsaktivisten, Frauen oder Journalisten. Wenn man außerdem bedenkt, was ein Tribunal der Völker von der Idee her und auch praktisch bedeutet, kann die mexikanische Gesellschaft nicht nur aus der Gegenwart betrachtet werden. Wenn die Staaten und internationalen Einrichtungen mit den Ressourcen der Zukunft an der Börse handeln und mit den Mais- oder Reispreisen der kommenden Jahrzehnte spielen, setzen sie auch die Zukunft selbst aufs Spiel. Das gilt genauso für Entscheidungen zur Beschränkung oder Kommerzialisierung der Rechte auf Gesundheit oder Bildung, die Privatisierung von Dienstleistungen und die Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Es hat eine beschleunigte Zerstörung der Natur stattgefunden, die für die Lebensbedingungen der betroffenen Gemeinschaften und die Zukunft Mexikos Konsequenzen hat. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Geographie hat Mexiko in den 20 Jahren nach Inkrafttreten des Freihandelsabkommens 34,68 % seiner Waldbestände verloren. Im Zusammenhang mit Umweltzerstörungen, von denen in- und ausländische Unternehmen profitieren, wurden vor diesem Tribunal insgesamt 211 Klagen erhoben, die 433 Gemeinden in 21 Bundesstaaten betreffen. Einige dieser Klagen wie in Michoacán oder Guerrero betreffen Orte, an denen natürliche Ressourcen gewonnen werden, die Verkehrswege dorthin sowie die organisierte Kriminalität. Zu den am häufigsten angeprangerten Eingriffen in die Umwelt gehören die Zerstörung von Wasserquellen, von Wäldern und bäuerlichen Lebensformen, die Übernutzung der Grundwasservorkommen und die Umweltbelastung durch Pestizide oder genetisch veränderte Organismen, was zur Forderung nach Schutzmaßnahmen bei der mexikanischen Justiz geführt hat. Solche Maßnahmen würden einen der wenigen Fälle darstellen, in denen das Leben in Bezug auf die Umwelt unter gerichtlichen Schutz gestellt wird. Verbunden waren all diese Proteste nicht selten mit der Verfolgung der Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten, bei der es zu willkürlichen Verhaftungen und sogar Morden kam.

Soziale Ausgrenzung, Migration und Gewalt

Diese Form der Ausgrenzung hat zu einem Phänomen der Massenmigration geführt, das vor allem junge Menschen betrifft, die größere Chancen auf eine Eingliederung in den US-Arbeitsmarkt haben, und das Mexiko einer ganzen Bevölkerungsgruppe beraubt, die nun als Investitionskapital für die Wirtschaft der USA dient, wo etwa 12 Millionen Menschen aus Mexiko leben, d. h. 10 % der Mexikaner insgesamt. Unterdessen ist Mexiko zu einem Land mit einer Grenze geworden, an der Tausende von Migranten, vor allem aus Mittelamerika, zur Ware degradiert und von kriminellen Netzwerken oder staatlichen Akteuren erpresst werden. Es ist zu einem gefährlichen Terrain geworden, in dem ihre Rechte missachtet werden und ihr Schicksal in einem Ausmaß von Menschenhändlernetzen abhängt, das ohne die Mitwirkung staatlicher Akteure und von Behörden einzelner Regionen nicht möglich ist. Zu einer solchen Feststellung gelangte das Tribunal durch hunderte von Berichten aus Migrantenherbergen, von Priestern und an ihrer Seite tätigen Freiwilligen, die beruflich und privat ebenfalls Drohungen ausgesetzt sind. Während der Staat sich in Ahnungslosigkeit übt oder die Verantwortung für das Ganze den Umständen zuschreibt, haben die Organisationen, die sich um die Migranten kümmern, ihre Lage auf sehr klare und manchmal dramatische Weise dokumentiert. Wenn es ein Gebiet gibt, in dem die Rechte in Mexiko abgeschafft wurden, dann ist dies das Gebiet der Migrationsrouten, die das Land von Süden nach Norden durchqueren. Der Staat hat diese Opfer und diese Zeugen weder angehört, geschweige denn Maßnahmen zur Verhinderung von Folter, zur Betreuung der Migranten oder zum Schutz der betroffenen Gebiete eingeleitet und die Vorschläge und Forderungen derjenigen, die mit der Problematik eng vertraut sind, offenbar nicht zur Kenntnis genommen.

Die Dynamik der Gewalt verstehen

Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Mexiko und ihre Dimension zu verstehen, ist notwendig und zugleich eine enorme Herausforderung. Während die politische Gewalt der 70er Jahre, insbesondere nach dem Studentenmassaker von Tlatelolco, auf ein Ausschalten der politischen Opposition abzielte, führte später der Ansatz der Aufstandsbekämpfung in einigen Gebieten des Landes, insbesondere in Chiapas durch die Revolte der Zapatisten sowie auch in Guerrero, zu einer Politik, mit der das soziale Gefüge kontrolliert wurde und die einer neuen Form der Kriegsführung glich: es wurden paramilitärische Verbände geschaffen und die gesellschaftliche Spaltung und Konfrontation vorangetrieben. Bei einer solchen Staatspraxis, die in mehreren Ländern, die selbst bewaffnete Konflikte oder Kriege erlebt haben, durchaus bekannt ist, geht es darum, Bevölkerung und Territorium zu kontrollieren. Die Geschichten und Fälle, die diesem Tribunal im letzten Jahrzehnt geschildert wurden, zeigen, dass sich hinter den stets allgemein gehaltenen Berichten über obskure, mit dem Drogenhandel verbundene kriminelle Netzwerke auch eine Verantwortung oder Tatenlosigkeit des Staates verbirgt, die Voraussetzung dafür ist, dass Gräueltaten in einem solchen Ausmaß stattfinden. Mexiko ist nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich und politisch zu einem großen Grenzgebiet der USA geworden und befindet sich traditionell in einem Unterordnungsverhältnis. Dieses Gebiet bildet zugleich die Nord-Süd-Grenze. Entlang dieser großen Grenze, die in Chiapas beginnt und in Baja California endet, hat sich ein guter Teil des Staatsgebiets in kontrollierte Korridore oder gescheiterte Bundesstaaten verwandelt – unter offensichtlicher Beteiligung des Zentralstaats. Gleichwohl wird die Beschreibung der Gewalt und ihrer Auswirkungen zu etwas Alltäglichem und dabei sogar sprachlich verharmlost. Eine Entführung heißt etwa „levantón“ (dt. etwa „Mitnahme“). Wird ein Mensch vermisst, spricht man von „extravío“ („Abhandenkommen“). Mord gehört zum Tagesgeschehen und zu einer Kriminalität, die stets von unbekannten Netzwerken und Befehlshabern ausgeht und mit einer Unzahl von Gräueltaten verbunden ist. Der Staat muss die Dinge beim Namen nennen, anstatt die Vorfälle herunterzuspielen, und wirksame Mechanismen in Gang setzen, um die Fälle aufzuklären und anzuerkennen, welche Probleme im Land herrschen. Werden die Probleme nicht anerkannt, wird die Erfahrung der Opfer in geschichtliche Vergessenheit geraten und nicht mehr Teil eines kollektiven Bewusstseins sein, das zum Handeln mobilisiert. Die vor diesem Tribunal geschilderten Fälle sind ein Appell an das Gewissen der Menschheit, doch haben sie nur in einigen Fällen zu einer sozialen Mobilisierung geführt, da sie von Teilen der Gesellschaft oft als Probleme angesehen wurden, die sie nichts angehen.

Frauenmorde und Lebensbedingungen von Frauen

Wie Ungleichbehandlung, fehlende Rechte und direkte Gewalt zusammenhängen, zeigt sich deutlich am Beispiel von Ciudad Juárez und Chihuahua. Während entlang der Grenze eine austauschbare Industrie entstand, die eine Strategie zur Gewinnmaximierung darstellte und für die Arbeitnehmer massenweise in prekäre Lebensbedingungen gedrängt wurden, begannen Ware und Mensch immer stärker miteinander zu verschmelzen. Der Warenverkehr oder die Montageindustrie ging ebenfalls einher mit einer ungleichen Verteilung der Gewalt: obwohl nur einen Steinwurf voneinander entfernt, war Ciudad Juárez jahrelang die gewalttätigste Stadt der Welt, während El Paso als sicherste Stadt der USA galt. Von der hohen Gewalt betroffen waren vor allem die jüngere Bevölkerung und die Frauen, die auf tragische Weise dafür gesorgt haben, dass die Praxis der Frauenmorde (Feminizide) und ihr zum Symbol gewordener Überlebenskampf bekannt wurden – sichtbar gemacht durch die Opfer in Chihuahua und Ciudad Juárez, Frauenorganisationen und Menschenrechtsgruppen.

Besonderheiten der geschlechtsspezifischen Gewalt in Mexiko

Die systematische Gewalt, der Mädchen und Frauen in Mexiko in der heutigen Zeit ausgesetzt sind, ist in einem historischen und strukturellen Kontext zu sehen, in dem Frauen in allen Lebensbereichen diskriminiert wurden. Dazu gehören Frauenmorde und sexuelle Folter ebenso wie subtilere Formen der Frauenfeindlichkeit wie etwa das Übergehen von Frauen in der offiziellen Geschichtsschreibung. Eine solche Frauenfeindlichkeit zeigt sich auch dann, wenn das Engagement von Frauen in sozialen Bewegungen nicht anerkannt wird, da dem Leben und Handeln von Frauen wenig Wert beigemessen wird. Dies gilt ebenso für die ausgrenzende Sprache, mit der nicht nur dieses Engagement unsichtbar gemacht, sondern auch verschwiegen wird, dass ganz konkret Frauen unter den verheerenden Folgen des Neoliberalismus und der Freihandelsabkommen zu leiden haben. So geht die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen vor allem zu Lasten der Frauen, denen die Pflege und Betreuung kranker, alter oder behinderter Menschen zufällt. Wie in mehreren Anhörungen festgestellt wurde, missachtet der Staat schlicht und ergreifend seine klare Pflicht, alle Formen der Diskriminierung gegen Frauen und Mädchen zu beseitigen. Damit verbunden ist auch ein Muster der Straflosigkeit, der gesellschaftlichen Tolerierung, ja selbst der Billigung von Gewalt gegen Frauen, Jugendliche und Mädchen festzustellen, das in einer Kultur begründet ist, die das Leben und die Rolle von Frauen wenig wertschätzt. Einer Kultur, die sich in Institutionen und Gesellschaft in einer Frauenfeindlichkeit äußert, die im Falle lesbischer und transsexueller Frauen als positiver Ausdruck der mexikanischen Identität legitimiert und akzeptiert wird.

Im Verlauf der Voranhörungen sind verschiedene Arten und Methoden von Gewalt gegen Frauen geschildert worden. Beispiele hierfür sind die Armut und Ausgrenzung, der Bäuerinnen und indigene Frauen ausgesetzt sind (wie etwa die Ereignisse beim Massaker von Acteal oder die Fälle der Schwestern González Pérez, von Inés Fernández, von Valentina Rosendo und anderen); der unverhältnismäßig hohe Frauenanteil in der informellen Wirtschaft, die Zwangsräumungen, die Wegnahme ihres Vermögens, der Wohnungsmangel, die illegalen Entlassungen und die höhere Arbeitslosigkeit bei Frauen, oder die Frauenmorde in verschiedenen mexikanischen Bundesstaaten; oder aber der fehlende Zugang zur Justiz und die Unfähigkeit der Behörden, mit der gebührenden Sorgfalt vorzugehen. Hinzu kommt die brutale körperliche und sexuelle Gewalt durch Polizeikräfte, Paramilitärs oder Mitglieder krimineller Vereinigungen; die Kriminalisierung und Übergriffe verschiedenster Art auf Menschenrechtsaktivistinnen; die Inhaftierung und Folter wegen abgebrochener Schwangerschaften; die Gewalt in der Geburtshilfe, die Erkrankungen und Todesfälle bei Müttern durch den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung und Schutz vor HIV, die Gewalt gegen Frauen mit abweichender sexueller Orientierung bzw. Geschlechtsidentität; die Vergewaltigungen und sexuelle Folter von inhaftierten Frauen; die Vergewaltigungen und der Tod von Migrantinnen; viele weitere Fälle, in denen sich verschiedene Arten von Gewalt überschneiden.

Die Voranhörungen haben gezeigt, dass Frauen auch aufgrund ihrer familiären und emotionalen Bindungen, ihrer Führungsrolle in ihren Gemeinden oder Organisationen oder ihrer Beteiligung an sozialen Protesten, wie es bei den schrecklichen Ereignissen von San Salvador Atenco der Fall war, zur Zielscheibe werden. Und obwohl diese Gewalt in vielen Fällen Teil einer Strategie ist, mit der verhindert werden soll, dass sich weitere Frauen den sozialen Protesten anschließen, wird diesen Opfern nicht die gebührende Solidarität seitens ihrer Mitstreiter zuteil. Im Gegenteil, oftmals werden sie von ihren eigenen Organisationen, ihren Partnern bzw. Familien oder von den Medien erneut zu Opfern gemacht. Andererseits haben die Drohungen, Folterungen und Vergewaltigungen auch weiterreichende Konsequenzen für die Frauen, da ihnen oft das Recht auf Wahrheit, auf Trauer, auf Gerechtigkeit und auf Wiedergutmachung für die erlittene Gewalt verwehrt wird.

Diese Gewalt haben besonders auch die Mütter von verschwundenen Personen zu spüren bekommen, wie der emblematische Fall von Marisela Escobedo zeigt, die ermordet wurde, weil sie Gerechtigkeit für ihre Tochter forderte. An diesem Beispiel zeigt sich, was geschieht, wenn weder Garantien für eine Nichtwiederholung gegeben noch geeignete strukturelle Maßnahmen getroffen werden: es werden weiter Frauen ermordet und ihre Angehörigen, insbesondere ihre Mütter, leiden weiter unter dem Verlust und der Straflosigkeit. Hätte man nach dem Fall „Campo Algodonero“ entsprechende Maßnahmen getroffen und das vor bald fünf Jahren ergangene Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte ordnungsgemäß umgesetzt, hätte man sicher viele der Verschleppungen, Todesfälle und Vergewaltigungen, die in den Anhörungen zur Sprache kamen, verhindern können.

Opfer und Überlebende

Das STV hat zahlreiche Zeugnisse des Schreckens gehört, vorgebracht von weiblichen Opfern, die überlebt haben, von bedrohten Journalisten, von Indigenen, deren Land begehrt ist und deren Lebensformen in Gefahr sind, von Gemeinschaften, die von der Umweltzerstörung betroffen sind, und von vielen anderen. Die Daten des Schreckens werden indessen zu einem Spielball der Statistik, die die Biographien von Millionen von Mexikanerinnen und Mexikanern, die von der Gewalt betroffen sind, in Zahlen verwandelt, die allenfalls eine Ahnung vermitteln. Das Tribunal erhielt Zugang zu den amtlichen, von verschiedenen Regierungen zur Verfügung gestellten Statistiken, in denen von 50 000 Toten die Rede ist und die mal 20 000, mal 16 000, mal 8000 Vermisste aufführen – als ob mit den Zahlen eine bestimmte Politik legitimiert werden soll, anstatt über das Ausmaß und die Auswirkungen eines Problems Auskunft zu geben. Dieser Kampf um die Darstellung der Wirklichkeit zeigt, dass eine echte Anerkennung fehlt, sodass acht Jahre nach der Politik des „Krieges gegen den Drogenhandel“ weder verlässliche Register oder Informationen über die angeblich mehr als eine Million Binnenflüchtlinge existieren noch die Opfer angemessen behandelt und ihre Berichte und in ihren Anklagen beschriebenen Sachverhalte angemessen gewürdigt werden. Zudem verschweigen diese Statistiken die Auswirkungen auf die neuen Generationen, schließlich mussten zehntausende Kinder mit ansehen, wie ihre Väter, Mütter oder Geschwister ermordet oder verschleppt wurden. In Mexiko bedarf es einer Untersuchung, welches Ausmaß die Folgen der Gewalt tatsächlich erreichen und welche politischen Konzepte zur umfassenden Prävention und Betreuung der Opfer verfolgt werden müssen.

Verstärkung der Auswirkungen und langfristige Folgen

Im vergangenen Jahrzehnt hat Mexiko eine Verstärkung der Auswirkungen der Gewalt erlebt, die vor allem die junge Bevölkerung betrifft und die Zukunft der Gesellschaft gefährdet. Während die Regierungen alle sechs Jahre enden, summieren sich die Auswirkungen der Gewalt mit der Zeit. Die zehntausenden Vermissten gehören nicht der Vergangenheit an; es geht um Verbrechen, die bis in die Gegenwart verübt werden und deren Auswirkungen insofern fortdauern, als die Verantwortung der Täter oder die notwendige Untersuchung und Wiedergutmachung durch den Staat nicht mit der Zeit erlischt. Außerdem stellen sie für die Angehörigen der Vermissten eine permanente psychische Misshandlung und Qual dar. In Mexiko sind diese Eindrücke noch sehr frisch und gehören doch schon zum Alltag der Opfer, die erschienen sind, um darüber zu sprechen, was die Vermissten noch erwartet, über den Schmerz, der nicht vergehen will, und zugleich über die Wut der Angehörigen, die mit der sinnlosen Grausamkeit der Täter und der Tatenlosigkeit des Staates nicht zu Rande kommen. Von den Opfern wurden uns immer wieder Geschichten geschildert, die von Verachtung zeugen und die eines gemeinsam haben: die Reaktion zahlreicher Beamten und Staatsbediensteten, die das Problem oft herunterspielen, den Angehörigen dazu raten, die Dinge nicht weiterzuverfolgen oder auf sich beruhen zu lassen, falls sie sich nicht ohnehin hinter Formalitäten verstecken, durch die sich die Dinge ohne jeglichen Fortschritt nur im Kreis drehen. In manchen Fällen senden sie gar Signale, die wiederum Teil der Drohungen sind. Unterdessen wachsen Empörung und Misstrauen. Ein Staat, in dem eine Kluft des Misstrauens zwischen der Bevölkerung und eben diesem Staat besteht, verliert seine Legitimität und untergräbt seine grundlegende Verpflichtung, den Belangen der Menschen Rechnung zu tragen und als Garant ihrer Rechte zu fungieren.

Medien, Gewalt und Angst

Das Tribunal ist Zeuge, wie die Angst zum Teil einer Strategie zur Kontrolle der Bevölkerung geworden ist, sei es zur Kontrolle der sozialen Proteste oder durch die organisierte Kriminalität, den Menschenhandel oder die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Das in anderen Ländern Lateinamerikas erlebte Muster („Irgendetwas werden sie schon angestellt haben“, „Misch dich nicht ein“) oder aber das Schweigen hat sich auch in verschiedensten Gegenden Mexikos verbreitet und ist dort einer der verhaltensbestimmenden Faktoren. Dieses Tribunal hat sich viele Zeugenaussagen angehört, doch war zugleich die Dimension des Schweigens spürbar, wenn geschildert wurde, wie die Angst ganze Gemeinden in verschiedenen Regionen des Landes mundtot macht, von der Sierra Tarahumara bis zu den Bergen Mexikos, von Bundesstaaten wie Tamaulipas bis nach Michoacán. An vielen dieser Orte können nicht einmal die Medien ihrer Arbeit nachgehen, da die Journalisten und Reporter der lokalen Radiosender ebenfalls Todesdrohungen ausgesetzt sind. Eine derartige Terrorisierung und Knebelung stellt nicht nur eine massive Verletzung der Meinungs- und Informationsfreiheit dar, sondern deutet auf eine Informationskontrolle hin, die politisch motiviert ist. Das Oligopol der Medien und die starke Konzentration der Fernsehsender in der Hand zweier Konzerne schaffen beste Voraussetzungen für die Kontrolle öffentlicher Informationen, was mit einer Demokratie nicht vereinbar ist.

Rolle des Staates und Abbau von Rechten

Nach der neoliberalen Politik wird die Zeit der Gemeinschaften und Einzelpersonen als Teil einer Ware angesehen. In Mexiko mit seinem Reichtum an natürlichen Ressourcen, seiner starken sozialen Ungerechtigkeit und Armut, und den vom Drogenhandel lebenden kriminellen Netzwerken hat der Staat allmählich seine Rolle als Regulator und Hüter der Rechte der breiten Mehrheiten eingebüßt und seine Garantien schrittweise abgebaut. Ausgehend von den überzeugenden Fakten, die in den verschiedenen Anhörungen wiederholt vorgebracht wurden, stellt das STV fest, dass die Behörden mehrerer mexikanischer Regierungen für den Abbau rechtlicher Garantien mitverantwortlich sind, und zwar vor allem durch die wiederholten und ständigen Verfassungsreformen, die mit einem Verlust der Rechte der Bevölkerung einhergingen, während gleichzeitig die Garantien für die transnationalen Unternehmen oder die Wirtschaftseliten erweitert wurden. Die zukunftsgefährdenden politischen Entscheidungen werden von Amtsträgern getroffen, die zwar gewählt, jedoch oftmals korrupt sind oder sich von eigennützigen Kriterien oder Interessen leiten lassen oder Teil der Strategien der transnationalen Unternehmen sind, die ihre Gewinne auf Kosten der neuen Generationen maximieren wollen. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Reform von Verfassungsartikel 27 über die Formen des Gemeinbesitzes (Ejidos und Tierras comunales) zu, die einen Entzug der Rechte und Garantien hinsichtlich der Nutzung und der Zugehörigkeit des Landes und seiner Ressourcen darstellte. Diese Politik und Praxis zeigt, dass es sich bei den als Entwicklungspolitik präsentierten Maßnahmen um regelrechte Plünderungen handelte, die im Nachhinein rechtlich abgesichert wurden. Auf diese Weise verliert das Recht seine Schutzfunktion und wird dafür missbraucht, der mexikanischen Bevölkerung die Macht zu entreißen und sie in die Hände der Handelsabkommen, der Großkonzerne oder der Wirtschaftseliten zu legen. Das kürzlich vom Obersten Gerichtshof erlassene Verbot von Volksbefragungen oder Referenden über Aspekte im Zusammenhang mit Einnahmen und Ausgaben, für welche ursprünglich die Fiskalpolitik zuständig sei, bedeutet in der Praxis, dass dem Ausbau der Bürgerbeteiligung und somit der elementaren demokratischen Gewalt in der mexikanischen Gesellschaft ein rechtlicher Riegel vorgeschoben wurde. Die dem Tribunal bei dieser Anhörung geschilderten Fälle zeigen, dass bei der Planung staatlicher Maßnahmen die Folgen für Gesellschaft, Umwelt und die neuen Generationen abgeschätzt werden müssen.

Gerechtigkeit und Kampf gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit ist ein universelles Bedürfnis und eine zentrale Forderung der Opfer und Überlebenden in Mexiko. Bei der überwiegenden Mehrheit der während der Anhörung geschilderten Fälle sind die Ermittlungen ergebnislos verlaufen und die Taten ungesühnt geblieben. Die mexikanischen Behörden halten einen traurigen Rekord in Bezug auf Tatenlosigkeit oder mangelhafte Ermittlungen, was oft schon am Ort des Geschehens beginnt. Für dieses Tribunal ist Straflosigkeit nicht nur das Ausbleiben einer Bestrafung, sondern ein Mechanismus, mit dem verhindert werden soll, die Verantwortung anzuerkennen und auf sich zu nehmen. Im Falle Mexikos wird versucht, die Verantwortlichkeiten zwischen den kommunalen, bundesstaatlichen oder nationalen Instanzen zu verwischen; Mechanismen der Rechenschaftspflicht wie etwa offizielle Menschenrechtskommissionen erweisen sich leider als wirkungslos. Wie wir in den dargelegten Fällen gehört haben, stellt die Straflosigkeit eine ausweglose Situation dar und ist zugleich ein erzieherisches, disziplinierendes Instrument, mit dem der Gesellschaft ein Gefühl der Ohnmacht auferlegt wird. Die Opfer und Überlebenden all jener Fälle, die im Rahmen dieser Anhörung und darüber hinaus während der gesamten Arbeit des STV sowie der ihm zuarbeitenden Organisationen vorgebracht wurden, sind die treibende Kraft in diesem Kampf gegen die Straflosigkeit und bedürften der Unterstützung und Anerkennung. Dieses Urteil soll ein Weg sein, um ihre Forderungen – ausgehend von dem Bewusstsein um die Anliegen der Völker – zu unterstützen.

4.1. Folgen der Gewalt und ihre Bewältigung

Das Tribunal richtet einen Appell an die Gesellschaft, gegen diese Situation, die akut ist und gravierende langfristige Folgen hat, etwas zu unternehmen. Die Folgen der Gewalt bekommen weite Teile der Gesellschaft unmittelbar zu spüren, insbesondere jüngere Bevölkerungsgruppen, die ihr direkt zum Opfer fallen. Doch auch ihre Angehörigen leiden unter Traumatisierung und Verlust, unter der Ungewissheit über ihren Verbleib oder unter dem Fehlen einer Betreuungs- und Wiedergutmachungspolitik. Eine solche ist abgesehen von einigen Gesetzesinitiativen oder bestimmten Teilmaßnahmen bislang nicht in die Wege geleitet worden. Andererseits würde die staatliche Politik zur Zerstörung der Zukunft nicht in eine systematische Praxis und eine soziale, politische oder rechtliche Straflosigkeit münden, bestünde kein offenes oder stillschweigendes Einverständnis vonseiten der Berufsgruppen, die die Aufgabe haben, die Daten und Erlebnisse – wie die bei dieser Anhörung geschilderten – so zu untersuchen und aufzuarbeiten, dass die Mechanismen und Ursachen, die diesen weit zurückreichenden Prozessen zugrunde liegen, sowie die geschilderten Rechtsverletzungen sichtbar gemacht werden können. Die Umwelt-, Gesundheits- und Epidemiologiebehörden, die übergreifenden Instanzen, die die Wechselwirkungen zwischen Recht, Wirtschaft und individuellen und kollektiven Menschenrechtsverletzungen bestimmen, betrachten die Lebensgeschichten der Menschen nicht als Bezugsgrößen, sondern als Korrektur- oder Störfaktoren in den Berechnungen der Fachleute, die in vielen Fällen als abwesend oder als Gegner der gefährdetsten Bevölkerungsgruppen oder Völker wahrgenommen werden. Dieses Tribunal ruft die betreffenden sozialen Instanzen dazu auf, sich dieser Problematik anzunehmen, die Opfer anzuhören und sich für eine Justiz, eine Medizin, eine Psychologie und eine Forschung einzusetzen, in der ernsthaft Fachleute ausgebildet werden, die über eine ethische Perspektive sowie Kompetenzen im Umgang mit Gewaltsituationen und der Betreuung von Opfern und Überlebenden verfügen.

5. DIE STRUKTURELLE LOGIK DES ANGRIFFS AUF DIE RECHTE DER VÖLKER IN MEXIKO

Mexiko hat auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen über Jahrzehnte ein positives Image genossen. Von der entschiedenen Unterstützung der spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge über die aktive Beteiligung an der Bewegung der blockfreien Staaten, das Eintreten für die weltweite Abrüstung, die Führungsrolle bei der Aushandlung des Vertrags von Tlatelolco für eine atomwaffenfreie Zone in Lateinamerika bis hin zur zügigen Ratifizierung diverser internationaler Abkommen zum Schutz der Menschenrechte hat sich Mexiko stets durch eine eigenständige Außenpolitik ausgezeichnet und dabei nicht selten für die größten sozialen Fortschritte optiert.

Noch heute haftet dem Land teilweise dieses Image an, das die häufigen gewaltsamen Zwischenfälle, über die in den internationalen Medien berichtet wird und die im weitesten Sinne mit dem Kampf verschiedener Akteure des Drogenhandels um Marktanteile zusammenhängen, sowie die Daten über Armut und Korruption offenbar kaum zu trüben vermögen, wenngleich die Stimme Mexikos in den großen internationalen Debatten sicherlich ihre Eigenständigkeit eingebüßt hat.

Was von außen indessen nicht wahrgenommen wird, ist, in welchem Maße und welch gravierender Weise das politische System schon seit langem auf ein Schema der institutionellen Gewalt setzt, um eine Wirtschaftspolitik durchzusetzen, die den Interessen einer Minderheit dient und in der einen oder anderen Weise einen Angriff auf die Rechte und Interessen breiter Bevölkerungsschichten darstellt. Was außerhalb Mexikos – zumindest jenseits der Menschenrechtsinstanzen – nicht hinreichend bekannt ist, ist wie häufig diejenigen, die ihre Rechte verteidigen und die Widerstandsbewegungen anführen, Drohungen, Angriffen, Mord, Verschleppungen, Landenteignungen und Zwangsumsiedlungen ausgesetzt sind, und dass es neben der gerne ins Feld geführten obskuren Gewalt durch den Drogenhandel die Gesamtheit der Institutionen des mexikanischen Staates auf allen Ebenen ist, die vorsätzlich oder grob fahrlässig dieses Verhaltensmuster plant, fördert oder zu seiner Aufrechterhaltung beiträgt. Die Welt soll wissen, dass die mexikanische Regierung ein Engel auf der Straße, jedoch ein Teufel im Hause ist, denn nur so können die erforderlichen Veränderungen aktiv unterstützt werden.

Im Falle Mexikos zeigt sich ein auffälliges Missverhältnis zwischen der Schwere dieser Staatsverbrechen bzw. systematischen Angriffe auf die Rechte der Völker, die während der mehrjährigen Tätigkeit dieses Tribunals angeprangert wurden, und der Vorstellung, die sich internationale und regionale Einrichtungen, Regierungen in Lateinamerika und der übrigen Welt, internationale Medien und selbst soziale Bewegungen, die global für die Rechte der Völker eintreten, von der Situation machen.

Im Unterschied zu anderen ähnlich wichtigen Fällen ist die Lage in Mexiko für keine internationale Einrichtung ein vorrangiges Anliegen, und weder die Regierungen unterschiedlicher Couleur noch die sozialen Organisationen und Menschenrechtsgremien räumen der Situation in Mexiko in ihren Kampagnen und Anklagen nennenswerte Priorität ein.

Die im Laufe der Jahre im Rahmen von Workshops, Foren, Voranhörungen und thematischen Anhörungen des Mexiko-Kapitels des STV zusammengetragenen Informationen, die Durchsicht tausender Dokumente und die Schilderung tausender Zeugenaussagen ergeben allerdings ein Bild der Lage, das keinen Zweifel daran lässt, dass der mexikanische Staatsapparat auf allen Ebenen für die angeprangerten Delikte und Rechtsverletzungen eine Mitverantwortung trägt und in völliger Übereinstimmung mit den Interessen des internationalen Kapitals, der Politik der USA und sogar der Arbeitsweise und den Interessen zahlreicher krimineller Organisationen handelt und dabei nach den in dieser Sache ermittelnden Anklägern „Machtmissbrauch“ begeht.

Charakterisiert wurde dieser „Machtmissbrauch“ als eine Umwandlung des Staatsapparats, bei der eine gewaltige Strafbefugnis gestärkt, ausgelagert und ihr neue Geltung verschafft wird, während zugleich alle Sorgen um das Wohlergehen der Bevölkerung aufgegeben werden und die staatliche Macht zur Verwirklichung von Partikularinteressen eingesetzt wird; ein Prozess, bei dem alle mühsam erkämpften historischen Errungenschaften der Völker mit Füßen getreten werden.

Dieser Machtmissbrauch findet wiederum auf allen Ebenen der staatlichen Ordnung statt, nämlich in Politik, Gesetzgebung, Justiz, selbst in der Wirtschaft, und zwar als Enteignung des Staatsapparats, der – beraubt jener Merkmale, die seine Daseinsberechtigung bilden sollen (Vertretung der Interessen der gesamten Bevölkerung) – ausgehöhlt wird.

Was an diesem Machtmissbrauch als kriminellem Mechanismus gemäß der Definition dieser atypischen Rechtswidrigkeit während der Stellungnahmen der Ankläger so befremdlich ist, ist dass Regierungen, politische Vertreter, Behörden und faktische Gewalten die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und rechtlich-institutionellen Kapazitäten des Staates zur Befriedigung einheimischer oder ausländischer Einzel- und Partikularinteressen genutzt haben, und dies entgegen oder zum Nachteil des öffentlichen Interesses, wobei die Mindestvoraussetzungen für den Fortgang und die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens vernachlässigt und die Ausübung der individuellen und kollektiven Rechte der Menschen einer ihren Interessen zuwiderlaufenden Wirtschaftsdynamik untergeordnet werden.

Im Falle Mexikos bestand der sich über mehrere Präsidentschaften hinziehende Machtmissbrauch aus einer Reihe planmäßiger, vorsätzlicher Handlungen, mit denen die neoliberalen Regierungen sich des öffentlichen Lebens des Landes bemächtigt, seine Entscheidungsgremien eingenommen und unter Ausnutzung der Mängel und autoritären Praktiken, die dem mexikanischen Präsidialregime zu eigen sind, eine nie dagewesene rechtliche Umgestaltung vorangetrieben haben, die eine Zerstörung der von der sozialen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts geerbten Staatsidee und die anschließende verfehlte Neuordnung des Staates zum Ziel hatte; all dies wiederum zu dem Zweck, einige transnationale Unternehmen unter Missachtung der Bedürfnisse und historischen Bestrebungen des mexikanischen Volkes stärker zu privilegieren und die Befriedigung ihrer Interessen rechtlich zu garantieren.

Bis heute sind 220 Dekrete zur Reform der Verfassung erlassen worden, davon 122, d. h. 55,45 %, unter der Ägide des neoliberalen Kapitalismus. Geführt hat dies zu insgesamt 238 Änderungen verschiedener Artikel, namentlich der Artikel 3, 27 und 123, jedoch auch vieler weiterer Artikel betreffend den Aufbau und die Zuständigkeiten öffentlicher Stellen, die regionale Verteilung der Befugnisse, den Umfang und Gegenstand der kommunalen Selbstverwaltung, die Wahlverfahren und das Parteiensystem, die Beteiligung der Bürger an der Politikgestaltung, die Transparenz und Rechenschaftspflicht, die Menschenrechte, die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, die nationale und öffentliche Sicherheit, die Politik zur Verbrechensbekämpfung, die Rechtspflege und weitere Aspekte, die für die Gesamtentwicklung Mexikos, die Unabhängigkeit und Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft, die Rechtsstaatlichkeit und die uneingeschränkte Freiheitsausübung und Würde der Menschen von wesentlicher Bedeutung sind.

Im Zuge dieses Machtmissbrauchs wurde die vorrangige Aufgabe des Staates so umdefiniert, dass er nunmehr als Organisator bzw. Vollstrecker von Ausbeutungen und Enteignungen, der Umstellung und Zerstörung der Produktionsstruktur und der Massaker, Repressionen und zahllosen Rechtsverletzungen fungiert, die zum Bruch der sozialen Strukturen in Mexiko notwendig sind.

Auch wenn dieser Prozess in unterschiedlichem Maße für zahlreiche neoliberal beeinflusste moderne Staaten charakteristisch ist, sticht der Fall Mexikos zweifellos durch die Tragweite dieses Machtmissbrauchs und das Ausmaß hervor, in dem der Vertretungscharakter oder die sozialen Funktionen des Staates ausgehöhlt werden, wobei ihr Fortbestehen im Unterschied zu diktatorischen Regimen, wo sie explizit aufgegeben werden, vorgetäuscht wird. Genau dies hat neben weiteren Faktoren dazu geführt, dass das Ausmaß der in Mexiko stattfindenden Vorfälle nicht sichtbar war.

Es waren unzählige soziale Bewegungen in Mexiko, die nicht nur das dem Tribunal geschilderte mannigfache Leid ertragen mussten, sondern auch die schwierige Aufgabe hatten, den Mantel des Schweigens und Vergessens zu lüften, der die jetzige Situation umgibt, nämlich das Ausmaß, die Komplexität und die Schwere der in Mexiko zwischen 1982 und 2014 verübten Staatsverbrechen sowie ihre Ursprünge in den weiter zurückliegenden Massakern und Repressionen wie denen von 1968 oder 1971 zu dokumentieren, einzuordnen, zu untersuchen und letztlich zu begreifen.

Diese gigantische Aufgabe, die oftmals einsam zu bewältigen war und der seitens der internationalen Institutionen, der meisten Regierungen, der allermeisten internationalen wie nationalen Medien und sogar der meisten sozialen Organisationen im Ausland mit Schweigen und Gleichgültigkeit begegnet wurde, entwickelte sich dennoch zu einer bereichernden Erfahrung, da sie eine Annäherung zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen ermöglichte. Als Beispiel hierfür sei der Leitspruch des Mexiko-Kapitels des Ständigen Tribunals der Völker genannt: „Wir gingen umher, ohne uns zu suchen, aber im Wissen, dass wir uns auf diese Weise finden würden“.

Das Tribunal war ein Ort der Begegnung, des Dialogs und der gegenseitigen Bereicherung, an dem eine Fülle von Informationen und Dokumenten zusammengetragen wurde und der die Möglichkeit bot, den strukturellen Charakter der systematisch angelegten Demontage der Rechte der Völker in Mexiko ansatzweise zu begreifen.

Am Prozess zur strukturellen Umwandlung der mexikanischen Gesellschaft sind vier Arten von Akteuren beteiligt:

a) transnationale Unternehmen;
b) die Herkunftsstaaten dieser Unternehmen (im Wesentlichen USA und Kanada);

c) internationale Institutionen wie etwa die WTO, der IWF, die Weltbank oder die WIPO, die als Vertreter der transnationalen Unternehmen agieren;

d) der mexikanische Staat selbst, indem er seine Macht missbräuchlich zur Sicherung und zum Schutz der Interessen der transnationalen Unternehmen, ihrer Herkunftsstaaten oder nationaler und internationaler krimineller Gruppierungen einsetzt.

6. BEI INTERNATIONALEN UND REGIONALEN GREMIEN EINGEREICHTE BESCHWERDEN BETREFFEND DIE LAGE IN MEXIKO

6.1. Einrichtungen der Vereinten Nationen

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat bei seiner letzten allgemeinen regelmäßigen Überprüfung der Menschenrechtslage in Mexiko für den Zeitraum 2013-2014 insgesamt 176 Empfehlungen an den mexikanischen Staat gerichtet. Diese Empfehlungen beziehen sich auf eine Reihe von Rechtsverletzungen, die bei den Voranhörungen und thematischen Anhörungen des STV angezeigt und untersucht wurden. An dieser Stelle sollen nicht alle aufgeführt, sondern nur die wichtigsten nach Themen gegliedert genannt werden.

Im Justizbereich empfahl der Rat insbesondere, die nationalen Rechtsvorschriften mit den Verpflichtungen aus dem Römischen Statut in Einklang zu bringen, die Praxis des „arraigo“ auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene abzuschaffen und sicherzustellen, dass alle Festnahmen nach Recht und Gesetz durchgeführt werden; das System der Strafjustiz zu stärken, um insbesondere allen mutmaßlichen Fällen von erzwungenem Verschwinden rasch und wirksam nachzugehen; die Verfahrensrechte der Angeklagten zu garantieren; die Straflosigkeit vor allem im Zusammenhang mit der Gewalt gegen Frauen, Kinder und Menschenrechtsaktivisten zu bekämpfen, indem allen Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen umfassend nachgegangen wird.

Hinsichtlich der Geschlechterproblematik wurde unter anderem empfohlen, das Allgemeine Gesetz über den Zugang von Frauen zu einem gewaltfreien Leben („Ley general de acceso de las mujeres a una vida libre de violencia“) mit den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften in Einklang zu bringen, die Anwendung der Gleichstellungsgesetze sicherzustellen und alle Formen der Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen; die vollständige und wirksame Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften und Strategien zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen zu gewährleisten und wirksame Maßnahmen zum Abbau der Gewalt und der Straflosigkeit zu treffen; die Maßnahmen zur Sicherstellung der Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verstärken. Darüber hinaus äußerste sich der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau besorgt über die Anzahl der Frauenmorde, die er für gravierend hält, und forderte dazu auf, dieses Verbrechen auf der Grundlage objektiver Kriterien in das Gesetz aufzunehmen.

In Bezug auf Folter und das Verschwindenlassen von Menschen sollte Mexiko dafür sorgen, dass Vorwürfen zu solchen Fällen und zu willkürlichen Verhaftungen gründlich nachgegangen wird und dass insbesondere die Untersuchung mutmaßlicher Folterdelikte nicht durch dieselbe Stelle erfolgt, die der Folter bezichtigt wird; institutionelle und rechtliche Maßnahmen treffen, um dem Problem der verschwundenen Personen und der ungestraften vorsätzlichen Tötungen wirksam zu begegnen; allen Vorwürfen im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Personen gründlich und systematisch nachzugehen, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und zu gewährleisten, dass alle Opfer, insbesondere die Angehörigen der Verschwundenen, eine Wiedergutmachung erhalten.

In Bezug auf Menschenhandel und das Schleusen von Migranten sollte Mexiko Maßnahmen ergreifen, um der Straffreiheit der in diese Delikte verwickelten öffentlichen Bediensteten ein Ende zu setzen; die Maßnahmen zur Bekämpfung des Schleusens von Migranten und des Menschenhandels, einschließlich der Gewalt gegen Migranten, verstärken; sich für den Schutz der Migranten einsetzen und ihre Sicherheit und Menschenrechte wirksam schützen und gewährleisten, insbesondere die von Frauen und Kindern, einschließlich derer, die sich auf der Durchreise durch Mexiko befinden.

Hinsichtlich der Sicherheitskräfte und Streitkräfte sollte Mexiko sicherstellen, dass die Fälle, in denen Angehörige der Sicherheitskräfte in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, in transparenter Weise aufgeklärt werden, und die Zivilpolizei reformieren; seine Anstrengungen zur Korruptionsbekämpfung auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung intensivieren; Artikel 57 des Militärgesetzbuchs ändern, um dafür zu sorgen, dass von den Streitkräften begangene Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten und ganz allgemein alle Menschenrechtsverletzungen vor Zivilgerichten verhandelt werden.

Was den Schutz von Journalisten, Medienschaffenden und Menschenrechtsaktivisten betrifft, sollte Mexiko einen wirksamen Schutz der Zivilgesellschaft und der Journalisten vorsehen, namentlich eine rasche und wirksame Untersuchung und Verfolgung aller Übergriffe und Drohungen gegen diese Personen; den nationalen Mechanismus zum Schutz von Aktivisten und Journalisten angesichts der Bedrohung, die die Netze der organisierten Kriminalität für die Meinungs- und Pressefreiheit darstellen, stärken und ihn mit einer präventiven Wirkung ausstatten; die gesetzlichen und institutionellen Garantien für Menschenrechtsaktivisten und Journalisten, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben, stärken und die Bekämpfung gegen die in diesem Bereich herrschende Straflosigkeit intensivieren.

In Bezug auf Armut und soziale Eingliederung empfahl der Rat, der Armutsbekämpfung Priorität einzuräumen und sich dabei auf Randgruppen oder benachteiligte Gesellschaftsschichten zu konzentrieren sowie dringend Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit und Bildung zu ergreifen; sich um die Erarbeitung von Modellen für die Wohnraumfinanzierung zu bemühen.

Im Zusammenhang mit den indigenen Völkern wird Mexiko aufgefordert sicherzustellen, dass diese Völker zu den sie betreffenden wirtschafts- und entwicklungspolitischen Maßnahmen und Projekten umfassend und wirksam konsultiert werden, wie es das IAO-Übereinkommen Nr. 169 vorsieht, und durch die Ausarbeitung eines Gesetzes, das ihr Recht auf vorherige Anhörung regelt, die stärkere Teilhabe indigener Völker zu fördern.

Darüber hinaus empfahl der Rat dem mexikanischen Staat, das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren zu unterzeichnen und zu ratifizieren; die Zuständigkeit des Ausschusses über das Verschwindenlassen anzuerkennen, die Einbindung des Übereinkommens in seine nationalen Rechtsvorschriften sicherzustellen und ein offizielles Register verschwundener Personen einzurichten; mehrere IAO-Übereinkommen zu ratifizieren, darunter das Abkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte.

6.2. Vor dem Interamerikanischen System eingereichte Beschwerden

Aufgrund des Versäumnisses des mexikanischen Staates, seinen Verpflichtungen auf dem Gebiet der Menschenrechte nachzukommen, sowie der Straflosigkeit und dem Ausbleiben einer angemessenen Reaktion seitens der mexikanischen Rechtsprechungsinstanzen haben sich die Opfer auch an regionale Menschenrechtsgremien gewandt.

Nach den Jahresberichten der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IAMRK) ist Mexiko in weniger als 15 Jahren von der 12. Stelle (Jahr 2000) auf Platz eins der Länder dieses Kontinents aufgerückt, die vor diesem internationalen Gremium die meisten Petitionen (Beschwerden) wegen Menschenrechtsverletzungen einreichen. Die IAMRK hat 16 Hintergrundberichte veröffentlicht, in denen der mexikanische Staat wegen des Verstoßes gegen verschiedene interamerikanische Instrumente verurteilt wird. Bislang ist keines davon in vollem Umfang angewandt worden.

Seit 2007 hat die IAMRK außerdem 39 Vorsorgemaßnahmen sowohl für Einzelpersonen als auch Gemeinschaften beschlossen, deren Rechte in Gefahr sind (zuletzt Maßnahme 409/14, „Studierende der Landhochschule Raúl Isidro Burgos“ in Guerrero).

Darüber hinaus hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte sieben Urteile gegen Mexiko verhängt, nämlich in den Fällen Castañeda Gutman (2008), Radilla Pacheco (2009), „Campo Algodonero“ („Baumwollfeld“) (2009), Inés Fernández Ortega u. a. (2010), Valentina Rosendo Cantú u. a. (2010), Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera – „Ecologistas“ (Umweltschützer) (2010) sowie dem Fall Juan García Cruz und Santiago Sánchez Silvestre (2013).

Das einzige Urteil, dem vollständig nachgekommen wurde, ist das Urteil im Fall Castañeda. In den übrigen Fällen sind nach Feststellung des Gerichtshofes noch mehrere Fragen offen, viele davon im Zusammenhang mit strukturellen Maßnahmen und Garantien für eine Nichtwiederholung:

Fall Radilla Pacheco: Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen für das Verschwindenlassen von Rosendo Radilla im Jahr 1974; tatsächliche Suche und umgehende Ausfindigmachung von Rosendo Radilla; angemessene Verfolgung des in Art. 215A des mexikanischen Strafgesetzbuchs erfassten Straftatbestands des Verschwindenlassens von Personen sowie kostenlose, sofortige, angemessene und wirksame psychologische und/oder psychiatrische Betreuung durch die öffentlichen medizinischen Facheinrichtungen.

Fall Campo Algodonero: Gerechtigkeit im Falle der ermordeten Frauen und Bestrafung der Verantwortlichen; Ermittlungen im Hinblick auf ein fahrlässiges Handeln von Beamten; Untersuchung der Schikanierung von Angehörigen, die die Menschenrechtsverletzungen angezeigt haben; Anpassung des Alba-Protokolls oder Einführung eines vergleichbaren Instruments; Einrichtung einer Datenbank mit personenbezogenen und genetischen Informationen zu den Vermissten und ihren Angehörigen sowie zu den Leichen aller nicht identifizierten Frauen oder Mädchen, die in Chihuahua umgebracht wurden; ferner kostenlose, sofortige, angemessene und wirksame ärztliche, psychologische oder psychiatrische Betreuung der Angehörigen der Opfer durch die staatlichen medizinischen Facheinrichtungen.

Fall Ecologistas: Untersuchung und Ahndung der 1999 von den Opfern erlittenen Folterungen, Ausbau des Haftregisters und Durchführung von Reformen am Amparo-Gesetz (Ley de Amparo) und am Militärrecht (die nach der Entscheidung des Gerichtshofes verabschiedet wurden).

In den Fällen von Valentina Rosendo, Inés Fernández sowie Juan García Cruz und Santiago Sánchez Silvestre liegen noch keine Entscheidungen über die Umsetzung vor.

Der Interamerikanische Gerichtshof beschloss schließlich in Bezug auf Mexiko sieben vorläufige Maßnahmen im Zusammenhang mit den folgenden Fällen: Digna Ochoa u. a.; Pilar Noriega u. a./Leonel Rivero; Rosa Isela Torres (Zeugin im Fall Campo Algodonero); Fernández Ortega u. a; Valentina Rosendo Cantú und Familie; Rocío Irene Alvarado Reyes, Nitza Paola Alvarado Espinoza und José Ángel Alvarado Herrera; Luz Estela Castro Rodríguez.

7. RECHTLICHE WÜRDIGUNG DER STRAFTATEN, DIE BEIM SYSTEMATISCHEN ANGRIFF AUF DIE RECHTE DER VÖLKER IN MEXIKO BEGANGEN WURDEN

Das Tribunal gelangte im Laufe der durchgeführten Anhörungen und anhand der zahlreichen mündlichen und schriftlichen Zeugenaussagen, die ca. 500 Fälle dokumentieren, zu der Feststellung, dass die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko äußerst schwerwiegend sind und sogar von einer generellen humanitären Krise gesprochen werden kann, die weite Teile der Bevölkerung erfasst und das Land in eine Staatskrise geführt hat.

Es kann an dieser Stelle nicht auf alle Verstöße im Einzelnen eingegangen werden, zumal sie ja großenteils in den Gutachten der jeweiligen Anhörungen aufgeführt sind. Dennoch wird ein allgemeiner Überblick über die verschiedenen Arten der festgestellten Verstöße gegeben, wobei einige besonders gravierende oder bezeichnende Fälle herausgestellt werden.

7.1 Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, das von Mexiko am 28. Oktober 2005 ratifiziert wurde, nimmt in Artikel 7 eine Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Diese Kategorie umfasst verschiedene Arten von Verbrechen, die dann als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten, wenn sie „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen“ werden. Als „Angriff auf die Zivilbevölkerung“ ist dabei eine Verhaltensweise zu verstehen, die mit der mehrfachen Begehung solcher Verbrechen gegen eine Zivilbevölkerung verbunden ist, in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat. In diesem Zusammenhang hat die Vorverfahrenskammer klargestellt, dass dabei ein bestimmtes Muster vorliegen muss; die Handlungen im Zuge einer gemeinsamen Politik durchgeführt werden müssen; sie nicht ausdrücklich festgelegt oder formalisiert werden müssen, sondern dass ihre Planung genügt.

Der Begriff „ausgedehnt“ bezieht sich dabei sowohl auf den großangelegten Charakter des Angriffs als auch auf die Zahl der Opfer. Der Begriff „systematisch“ wiederum bezieht sich auf den „organisierten Charakter der Gewaltakte und die Unwahrscheinlichkeit, dass sie zufällig geschehen“.

7.1.1. Arten von Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Bei einigen der dokumentierten Verbrechen besteht eine Verbindung zwischen staatlichen Institutionen, Polizei- oder Streitkräften und paramilitärischen Verbänden und kriminellen Organisationen und somit eine Beteiligung des Staates auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene, während andere den verschiedenen Ausprägungen des organisierten Verbrechens allein zugeschrieben werden können.

Die während der Anhörungen des Mexiko-Kapitels des STV beigebrachten Unterlagen und Erklärungen enthalten nach Auffassung des Tribunals hinreichend Anhaltspunkte, um behaupten zu können, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit folgender Art begangen wurden: a) vorsätzliche Tötung; b) Ausrottung; c) Versklavung; d) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung; e) Freiheitsentzug oder sonstige schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts; f) Folter; g) Vergewaltigung; h) Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen Gründen; i) zwangsweises Verschwindenlassen von Personen.

Die Beispiele sind zahlreich, weshalb hier für jede Art des Delikts nur einige Fälle genannt werden.

a) Vorsätzliche Tötung
Trotz abweichender Angaben wird die Zahl der Personen, die seit dem Amtsantritt von Felipe Calderón Hinojosa getötet wurden, auf über 37 000 geschätzt und nimmt laufend zu, wobei es sich großenteils um außergerichtliche Hinrichtungen handelt.

Der Bundesstaat Chihuahua meldete dabei die meisten gewaltsamen Todesfälle, deren Zahl sich allein 2009 auf 3250 belief. Davon entfielen die meisten, nämlich 81 %, auf die Stadt Ciudad Juárez (2630).

Besonders eindringlich ist das Phänomen des so genannten Feminizids. Zwischen 2011 und 2013 hat die Nationale Beobachtungsstelle für Frauenmorde (Observatorio Ciudadano Nacional de Feminicidio) mindestens 1889 Fälle von Frauenmorden verzeichnet. In den letzten Jahren haben sich Frauenmorde in allen Bundesstaaten ausgebreitet. Insbesondere in den Bundesstaaten Chiapas, México, Michoacán, Morelos, Sinaloa und im Hauptstadtdistrikt sind entsprechende Fälle verzeichnet worden.

Im Rahmen des STV wurden zahlreiche Mordfälle dokumentiert. Einer davon ist der Mord an Marisela Escobedo Ortiz, der am 16. Dezember 2010 in Chihuahua stattfand und ein Musterbeispiel für einen Feminizid, die Kriminalisierung von Menschenrechtsaktivisten und die fahrlässige Unterlassung des Staates angesichts eines angekündigten Todes darstellt.

b) Ausrottung
In Mexiko ist es häufig zu Massakern durch staatliche Kräfte oder andere bewaffnete Akteure gekommen, d. h. zu Angriffen auf eine Gruppe mit fünf oder mehr Opfern während ein und desselben Vorfalls. Erinnert wurde im Rahmen der Anhörungen unter anderem an die Massaker von Ocosingo, San Cristóbal und Chicomuselo, Chiapas (im Januar 1994 und im Jahr 1995), das Massaker von Aguas Blancas, Guerrero (28. Juni 1995), das Massaker von Acteal, Chiapas (22. Dezember 1997), das Massaker von El Charco, Guerrero (7. Juni 1998) und das Massaker von El Bosque, Chiapas (10. Juni 1998).

Im Laufe der Zeit ist es kontinuierlich zu weiteren Übergriffen auf ganze Personengruppen gekommen. Beispiele hierfür sind die Unterdrückung und die Morde von Atenco (2001 und 2006), die Unterdrückung der Lehrerbewegung in Oaxaca und die nachfolgende Unterdrückung der Volksbewegung von Oaxaca mit mehr als 20 Morden (im Verlauf des Jahres 2006), die Unterdrückung der indigenen Gemeinschaften von Cherán und Ostula (Michoacán) mit mehr als 10 Morden (zwischen 2011 und 2012) sowie die Unterdrückung des Widerstandes gegen ein kanadisches Bergbauunternehmen in San José del Progreso (Oaxaca) mit zwei Ermordeten und mehreren Verletzten (im Verlauf des Jahres 2012).

Bei weiteren Massakern scheint keine unmittelbare staatliche Urheberschaft vorzuliegen, so etwa beim Massaker an 72 zentral- und südamerikanischen Migranten, die in der Gemeinde San Fernando (Tamaulipas) hingerichtet wurden (2010); dem Fall der 49 enthaupteten und verstümmelten Leichen, die 2012 an einer Landstraße, die Monterrey mit der Grenze der USA verbindet, abgelegt wurden; dem Fall der 18 Leichen, die im selben Jahr in einem touristischen Gebiet nahe Guadalajara gefunden wurden; oder bei den 23 Leichen, die man in der Grenzstadt Nuevo Laredo enthauptet oder an einer Brücke aufgehängt vorfand.

Sehr wohl dem Staat zuzuschreiben ist das erst in jüngster Zeit verübte Massaker im Dorf San Pedro Limón in der Gemeinde Tlatlaya (Bundesstaat México), bei dem am 30. Juni 2014 insgesamt 22 Personen ermordet wurden.

c) Versklavung
Es sind Beweise für den Einsatz von Sklavenarbeit in einigen Fällen und Gebieten vorgelegt worden, so etwa im Fall des Tomatenproduzenten Bioparques de Occidente S.A. de C.V. mit Sitz in der Gemeinde Tolimán, Jalisco (der paradoxerweise im Jahr 2010 vom Ministerium für soziale Entwicklung – SEDESOL – für seine soziale Verantwortung ausgezeichnet und mit 10 Millionen Pesos belohnt wurde). Am 10. Juni 2013 kam es zur Befreiung von 272 Tagelöhnern – 191 Männern, 45 Frauen und 36 Minderjährigen –, die auf den unternehmenseigenen Plantagen ausgebeutet wurden und zu einem Leben unter sklavenähnlichen Bedingungen gezwungen waren.
Später wurden bei den Unternehmen Empaques Casillas und Bonanza in Autlán ähnlich ausbeuterische Verhältnisse festgestellt: dort wurden weitere 280 Tagelöhner in ihren fundamentalen Grundrechten verletzt.

d) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung
Zwangsumsiedlungen gehören in Mexiko zur Realität und betreffen Hunderttausende von Menschen. Die Gründe dafür sind unter anderem großangelegte Bergbau- und Wasserkraftprojekte oder die durch den sogenannten „Drogenkrieg“ ausgelöste Militarisierung und Gewalt.

Angeprangert wurde die Zerstörung von Wohnhäusern, um die Vertreibung von Familien und Gemeinden zu erzwingen und so das Land für verschiedene Industrie-, Bergbau-, Tourismus- oder Straßeninfrastrukturprojekte nutzen zu können. Zu den gemeldeten Fällen einer zwangsweisen Überführung der Bevölkerung, die meist mit der Besetzung gemeinschaftlichen Landes einhergeht, zählen der Ejido Benito Juárez (Chihuahua) oder Bergbauprojekte in indigenen Gebieten, die ohne vorherige Anhörung genehmigt wurden. Betroffen sind außerdem Fälle, die von der Revolutionären Volksunion Emiliano Zapata (Unión Popular Revolucionaria Emiliano Zapata – UPREZ) angezeigt wurden, darunter die Aneignung von Grundstücken, die vom Staat erworben worden waren (Bundesstaat México), sowie die Fälle der Gemeinden San Antonio de Ebulá (Campeche) oder Bacalar (Quintana Roo).

e) Freiheitsentzug oder sonstige schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts
Eine gerichtliche Verfolgung aufgrund von falschen Anschuldigungen ist in Mexiko gängige Praxis, um führende Gemeindevertreter und Menschenrechtsaktivisten zu behindern und möglichst auszuschalten. Dies geschah beispielsweise beim Rat der Ejidos und Gemeinden gegen den Staudamm von La Parota (Guerrero), im Fall von Nestora Salgado in Olinala (Guerrero) oder der indigenen Gemeinschaft Nahua in San Pedro Tlanixco (México). In diesen Fällen haben sich die rechtlichen Garantien eindeutig als wirkungslos erwiesen.

Ein exemplarisches und doch bezeichnendes Beispiel für die zahlreichen Inhaftierungen ohne rechtliche Garantien ist der Fall des Lehrers Alberto Patishtán Gómez, der der indigenen Volksgruppe der Tzotzil in der Gemeinde El Bosque (Chiapas) angehört. Er wurde zu 60 Jahren Haft verurteilt, da er angeblich ein Massaker an sieben Polizisten verübt hatte; dabei war das Verfahren unzulässig, da nicht einmal Dolmetscher anwesend waren, obwohl der Angeklagte kein Spanisch spricht. Alberto Patishtán blieb 13 Jahre im Gefängnis und sein Fall wurde von den Medien verschwiegen. Das Unrecht war so offensichtlich, dass er schließlich vom Staat begnadigt wurde, was er zunächst jedoch ablehnte, da dies einem Schuldeingeständnis gleichkäme. Deshalb erließ der Kongress schließlich ein Sondergesetz für seine Freilassung, mit dem die Bedingung, dass der Begnadigung zuzustimmen ist, geändert wurde. Patishtán wurde am 31. Oktober 2013 freigelassen.

f) Folter
Dem Tribunal sind diverse Berichte über wiederholte und systematische Folterungen vorgetragen worden, die von staatlichen Akteuren begünstigt oder durchgeführt wurden. Dazu zählen der Fall der Gemeinde Aquila (Michoacán), der von Claudia Medina in Veracruz und der brutale Übergriff gegen die Bevölkerung von San Salvador Atenco im Mai 2006.

Die Berichte haben außerdem gezeigt, dass die Folterungen oft dem gleichen Muster folgen. In einem dieser Berichte über die Folter von Führern der Volksunion der Straßenverkäufer „28. Oktober“ (Unión popular de vendedores ambulantes „28 de Octubre“) wurde geschildert, wie staatliche Akteure Personen willkürlich festnehmen, ihnen die Augen verbinden, sie bewachen, in spezielle Räume führen, wo die Folter stattfindet, ihnen Plastiktüten über den Kopf ziehen und die Luft nehmen, kontinuierlich schlagen, Geständnisse fordern, sie die schmerzerfüllten Schreie anderer Personen, die um ein Ende der Folter flehen, hören lassen, sie unter Wasser tauchen, kontinuierlich misshandeln – etwa durch Kopftritte -, damit drohen, sie umzubringen oder ihren Angehörigen etwas anzutun, sie des Begehens von Straftaten bezichtigen, ihnen ein Gewehr ins Genick halten und sie sogar lebende Würmer und Kakerlaken essen lassen. Wird protestiert, geht die Folter weiter und sie landen in Hochsicherheitszellen oder werden mit Geisteskranken zusammengesperrt. Während der Folter haben sie keinen Kontakt zu anderen Häftlingen.

g) Vergewaltigung
Vergewaltigungen und andere Formen der sexuellen Gewalt sind ein Phänomen, das in Mexiko besonders gravierend ist und in sehr unterschiedlichen Ausprägungen in Erscheinung tritt, angefangen von der interpersonellen Gewalt (allein 2012 wurden 14 566 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht; 2013 waren es 13 504 und bis September 2014 insgesamt 9806) bis hin zur politischen Unterdrückung, weshalb ein Teil von ihnen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden könnte.

Hervorzuheben ist hierbei ein komplexer Fall von Frauen- und Mädchenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, der in Tlaxcala verzeichnet wurde. Dort hat sich im Laufe mehrerer Jahrzehnte durch Fahrlässigkeit, Beihilfe und Vortäuschung von Tatsachen seitens der Behörden eine Kultur herausgebildet, in der die sexuelle Ausbeutung von Frauen, vor allem schutzloser minderjähriger und junger Frauen, legitimiert und schöngeredet wird.

Insbesondere nach den Massenverhaftungen im Zuge der im Mai 2006 eingeleiteten Repressionsmaßnahmen gegen Bewohner der Ortschaft San Salvador Atenco soll es zu Vergewaltigungen gekommen sein.

Mexiko war das erste Land, das vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen dreier Fälle von Vergewaltigung durch Angehörige der Streitkräfte verurteilt wurde. Unter den ersten Berichten des Gerichtshofs in Bezug auf sexuelle Gewalt als Teil der Einsätze zur Aufstandsbekämpfung beziehen sich zwei ebenfalls auf Mexiko.

h) Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen Gründen
An dieser Stelle wären unter anderem die Menschenrechts- und Umweltaktivisten zu nennen, die mit dem Ziel verfolgt werden, die wichtigsten Zentren des Widerstandes gegen Menschenrechtsverletzungen und gegen die Zerstörung der Umwelt auszuschalten und durch das Schüren von Angst die Gemeinschaften zu zwingen, die Durchsetzung von Maßnahmen und Projekten hinzunehmen.

Nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (Comisión Nacional de Derechos Humanos) wurden zwischen 2005 und 2011 insgesamt 523 Übergriffe gegen Menschenrechtsaktivisten verzeichnet. Nach Angaben des Mexikanischen Zentrums für Umweltrecht (Centro Mexicano de Derecho Ambiental) wurden von 2009 bis 2012 insgesamt 54 Angriffe auf Umweltaktivisten und -aktivistinnen verzeichnet.

Eine weitere Personengruppe, die gewaltsamen Angriffen ausgesetzt war und ihre Arbeit nicht ungehindert ausüben konnte, waren die Journalisten. Seit dem Jahr 2000 sind 102 Journalisten ermordet worden und 18 verschwunden; hinzu kommt noch eine unbekannte Zahl von Journalisten, die vertrieben wurden oder ins Exil gingen. In den vergangenen 20 Monaten sind 11 Journalisten ermordet worden und in den ersten 9 Monaten des Jahres 2014 wurden 201 Übergriffe auf Journalisten verzeichnet.

In ähnlicher Weise verfolgt werden führende Gewerkschafter, die Bedienstete des Bildungssektors in Guerrero oder die Arbeitnehmer des Mineralölkonzerns PEMEX vertreten.

i) Zwangsweises Verschwindenlassen von Personen
Die mexikanische Regierung räumte 2012 ein, dass zwischen 2006 und 2012 mehr als 26 000 Menschen verschwunden sind bzw. sich an einen unbekannten Ort aufhalten. Eine unbestimmte Zahl davon hat man zwangsweise verschwinden lassen. Erwähnenswert ist dabei, dass Mexiko die Zuständigkeit des Ausschusses über das Verschwindenlassen für Individualbeschwerden nicht anerkannt hat und zu Artikel 9 der Interamerikanischen Konvention über das Verschwindenlassen im Zusammenhang mit der Militärgerichtsbarkeit nach wie vor einen Vorbehalt geltend macht. Die Möglichkeiten zur Verhinderung neuer Fälle des Verschwindens von Personen sind dadurch eingeschränkt.

Es ist daran zu erinnern, dass die Arbeitsgruppe zur Frage des Verschwindenlassens von Personen bei ihrem Besuch 2011 einen eindringlichen Bericht erstellte, in dem die Dimension dieses Phänomens einschließlich der Verantwortlichkeiten des Staates aufzeigt und zahlreiche Empfehlungen für die Ermittlungen, das Vorgehen bei der Suche, die Vorbeugung vor solchen Vorfällen und die Entschädigung der Opfer formuliert werden, denen bislang aber noch nicht nachgekommen wurde.

Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang und in diesen Tagen, in denen die Schlusssitzung des Tribunals stattfindet, ein Verweis auf die 43 Studierenden der pädagogischen Landschule Raúl Isidro Burgos in Ayotzinapa (Guerrero), die am 26. September 2014 nach ihrer Verhaftung durch Sicherheitskräfte spurlos verschwunden sind – ein Ereignis, das ganz Mexiko und die Welt erschüttert hat.

7.1.2. Individuelle Verantwortlichkeit für völkerrechtliche Verbrechen

Die in dieser Anhörung festgestellten Sachverhalte können nicht als eine Reihe mehr oder weniger zahlreicher Einzelfälle betrachtet werden, sondern sind aufgrund ihrer Rahmenbedingungen wohl als Verbrechen von erheblicher internationaler Bedeutung einzustufen, die eine internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit der Personen auslösen, die diese Verbrechen begehen oder Beihilfe dazu leisten.

Mexiko hat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs am 7. September 2000 unterzeichnet und nach einer Reform des Verfassungsartikels 21 am 28. Oktober 2005 ratifiziert. Bei dieser Reform wurde Artikel 21 um einen Satz ergänzt, der es der mexikanischen Bundesregierung ermöglicht, nach Genehmigung durch den Senat die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs im jeweiligen Fall anzuerkennen. Dieser Vorbehalt ist widersprüchlich, da das Statut keine Vorbehalte zulässt, und widerspricht den Zielen und Zwecken des Strafgerichtshofs.

Nach den Artikeln 11 und 126 des Statuts trat dieses für Mexiko am 1. Januar 2006 in Kraft. Aus diesem Grund ist der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) unter anderem befugt, über Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu befinden, die nach diesem Datum in Mexiko oder durch mexikanische Staatsbürger verübt wurden.

Die Anklagebehörde des Gerichtshofs kann auf Initiative eines Vertragsstaats des Statuts, auf Initiative des VN-Sicherheitsrates oder aus eigener Initiative des Anklägers nach vorheriger Genehmigung durch die Vorverfahrenskammer Ermittlungen gegen Mexiko einleiten. Vor diesem Hintergrund reichte eine Gruppe von Bürgern bereits am 25. November 2011 bei der Anklagebehörde einen Antrag mit mehr als 20 000 Unterschriften ein, in dem die Einleitung von Ermittlungen gefordert wird, um festzustellen, ob Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen werden und inwieweit Felipe Calderón Hinojosa, mexikanischer Staatspräsident vom 1. Dezember 2006 bis zum 30. November 2012, seine Minister für öffentliche Sicherheit, für Verteidigung und für Marineangelegenheiten, Genaro García Luna, Guillermo Galván Galván bzw. Francisco Sáynez Mendoza sowie der mutmaßliche Kopf des Sinaloa-Kartells, Joaquín Guzmán Loera, Verantwortung dafür tragen.

Erst vor kurzem, am 12. September 2014, legte eine Gruppe von Menschenrechtsorganisationen der Anklagebehörde des IStGH einen Bericht über Folterungen, gravierende Freiheitsberaubungen und das Verschwindenlassen von Personen vor. Für die zwischen 2006 und 2012 in Baja California stattgefundenen Vorfälle werden Streitkräfte und staatliche Sicherheitskräfte verantwortlich gemacht. In dem Bericht wird der systematische und ausgedehnte Charakter dieser Verbrechen untermauert, der Teil einer Regierungspolitik war, die vor allem von Militärbehörden sowie auch von Polizeikräften im Wege von Angriffen auf Zivilisten umgesetzt wurde und darauf abzielte, im Kampf gegen die organisierte Kriminalität „Fortschritte und Ergebnisse“ zu präsentieren. Es handelt sich hierbei um die zweite Mitteilung, die vom Internationalen Bund der Menschenrechtsligen und der Mexikanischen Kommission zur Wahrung und Förderung der Menschenrechte (Comisión Mexicana de Defensa y Promoción de los Derechos Humanos) der Anklagebehörde des IStGH vorgelegt wird und sich mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit befasst, die in Mexiko im Rahmen des so genannten „Krieges gegen den Drogenhandel“ begangen wurden. Sie ergänzt die erste, im Oktober 2012 vorgelegte Mitteilung.

Zwar wurden nach den vorliegenden Informationen zahlreiche Verbrechen verübt, die vor Inkrafttreten des Römischen Statuts für Mexiko in die sachliche Zuständigkeit des IStGH fallen würden, doch haben sich solche Vorfälle auch im Zeitraum nach dem 1. Januar 2006 ereignet.

7.2 Bürgerliche und politische Rechte

Im Rahmen der Anhörungen konnten eine Reihe von Verletzungen bürgerlicher und politischer Rechte nachgewiesen werden, so etwa folgende:

7.2.1 Allgemeine Pflicht zur Achtung der Menschenrechte

Die Politische Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten (nachfolgend „Verfassung“) erkennt in Artikel 1 an, dass der Staat die Pflicht hat, Verletzungen der Menschenrechte zu verhüten, zu untersuchen, zu ahnden und wiedergutzumachen; diese Pflicht wird auch in Artikel 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (nachfolgend AMRK) und in Artikel 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) anerkannt. Mexiko ist Vertragspartei beider Übereinkünfte.

Dem Tribunal wurden zu Dutzenden Fälle geschildert, in denen von Tausenden von Menschen die Rede ist, die in den letzten 50 Jahren in verschiedenen Gebieten Mexikos Menschenrechtsverletzungen zum Opfer fielen und in denen die allgemeinen Pflichten des mexikanischen Staates in Bezug auf Menschenrechte nicht erfüllt wurden.

7.2.2 Recht auf Leben

Das Recht auf Leben und das Verbot, jemanden seines Lebens zu berauben, ist in Artikel 6 des IPbpR und in Artikel 4 der AMRK festgeschrieben. In der Verfassung Mexikos findet es sich in Artikel 29, der den Ausnahmezustand bzw. Notstand regelt; dort wird klargestellt, dass das Recht auf Leben und persönliche Integrität nicht ausgesetzt werden darf und auch dann zu achten ist, wenn es zu ernsthaften Störungen des öffentlichen Friedens oder anderer Art kommt.

Dem Tribunal ist von zahlreichen Personen berichtet worden, die durch Akteure des Staates, paramilitärische Verbände und bei diversen sozialen Unruhen getötet wurden, so etwa der Lehrer Edmundo Navas.

Recht auf körperliche Unversehrtheit
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Verbot von Folter wird in Artikel 7 des IPbpR und in Artikel 5 der AMRK anerkannt.

In seinem im November 2014 vorgelegten Bericht zu Mexiko wies der Sonderberichterstatter des VN-Menschenrechtsrates über Folter Juan Méndez darauf hin, dass in Mexiko der Einsatz von Folter und Misshandlungen weiterhin verbreitet sei, insbesondere in der Zeit zwischen der Verhaftung und der Vorführung vor dem Haftrichter.

Dies deckt sich mit den vorgelegten Dokumenten und den Zeugenaussagen, aus denen hervorgeht, dass seitens staatlicher Akteure gegenüber Gewerkschaftern, Wanderarbeitnehmern, Menschenrechtsaktivisten und inhaftierten Personen Folterpraktiken angewandt wurden. Folterungen stellen auch eine weitverbreitete Praxis bei Gruppierungen der organisierten Kriminalität dar. In vielen Fällen sind die Folterungen so grausam, dass sie zum Tod führen.

7.2.3 Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung

In den Artikeln 3 (B) und 5 der Verfassung wird anerkannt, dass die Chancen- und Rechtsgleichheit aller zu fördern, jegliche diskriminierende Praxis zu beseitigen und Vorrechte aufgrund der Rasse oder der Religion von Gruppen oder Einzelpersonen zu vermeiden sind. Das Gleiche besagen Artikel 3 des IPbpR und die Artikel 2 und 24 der AMRK.

Ausgehend von den Schilderungen stellt das Tribunal fest, dass abhängig vom Glauben bestimmter Personen oder Personenkreise, der Art und Weise, wie sie ihre Rechte einfordern, oder der Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe und der Nähe zur politischen Macht eine differenzierte Behandlung stattfindet.

Eine differenzierte Behandlung seitens des Staates lässt sich ebenfalls feststellen, wenn man sich ansieht, wer die Opfer seiner Repressionsmacht sind: es sind die Mitglieder der Gruppen, die protestieren, die mit der Regierungspolitik nicht einverstanden sind, die sich über den Machtmissbrauch beschweren. Die Unterdrückung ist deshalb selektiv und diese Praxis ist diskriminierend. Dafür werden diejenigen, die Personen nahestehen, welche politische, polizeiliche oder wirtschaftliche Macht ausüben, nicht nur nie unterdrückt, sondern genießen bei ihren Tätigkeiten, ob legal oder illegal, polizeilichen Schutz. Das heißt, eine Personengruppe wird wegen der Ausübung ihrer Rechte unterdrückt, während andere bei rechtswidrigen Handlungen straffrei bleiben.

7.2.4 Recht auf freie Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit

In den Artikeln 6 und 7 der Verfassung wird in Übereinstimmung mit Artikel 19 des IPbpR und Artikel 13 der AMRK das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung und Weitergabe von Meinungen, Informationen und Gedankengut anerkannt.

Der öffentliche Protest, d. h. ein öffentlicher Akt der kollektiven Meinungsäußerung, ist eine der Ausdrucksformen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit. Der öffentliche Protest äußerst sich auf Straßen, Plätzen und an anderen öffentlichen Orten. Die Proteste, die stattgefunden haben und dem Tribunal geschildert wurden, waren friedlich und dienen der Einforderung von Rechten, die in der Verfassung und internationalen Menschenrechtsabkommen anerkannt werden und die durch Handlungen oder Unterlassungen des Staates verletzt wurden. Dazu zählen das Recht auf freie und kostenlose Bildung, auf Land, auf Vereinigungsfreiheit, Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte, das Recht auf eine gesunde Umwelt, auf Anhörung, auf Beteiligung an den Gewinnen aus der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die den Gemeinschaften gehören, auf transparente Wahlen, auf die Nichtprivatisierung öffentlicher Dienstleistungen, auf die Verbesserung der Lebensbedingungen, das Recht der Medienschaffenden und der Gesellschaft auf freie Meinungsäußerung, das Recht der indigenen Völker und Gemeinschaften auf Land und Eigenständigkeit, wogegen die Freihandelsabkommen verstoßen, und das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

In den geschilderten und vom Tribunal untersuchten Fällen wurde deutlich, mit welcher Intoleranz die Behörden den Protesten begegnet sind: durch den häufigen Einsatz von Unterdrückungsinstrumenten, öffentliche Diffamierungen, die Diskreditierung sozialer Forderungen, Einkesselungen durch die Polizei, willkürliche Festnahmen, körperliche Angriffe und Verprügelungen sowie den Einsatz von Tränengas und Tränengasgranaten. Das Ergebnis sind strafrechtliche Verfolgungen und Anschuldigungen wie im Fall der Urbanen Volksbewegung (Movimiento Urbano Popular), deren Mitglieder geschlagen, diffamiert, gefoltert, verhaftet und verurteilt wurden. Das Protokoll zur Kontrolle größerer Menschenmengen (Beschluss 16/2013) und der Einsatz des Strafrechts (insbesondere von Artikel 362 des Strafgesetzbuchs betreffend die „Störung des öffentlichen Friedens“) zur Verfolgung von Protestierenden stellen in diesem Zusammenhang besonders schwerwiegende Praktiken dar.

7.2.5 Vereinigungsfreiheit

Die Verfassung erkennt in Artikel 9 die Vereinigungsfreiheit an und besagt hierzu Folgendes: „Eine Versammlung oder Zusammenkunft, mit der einer Behörde gegenüber eine Forderung erhoben oder gegen eine bestimmte Handlung Einspruch erhoben werden soll, gilt nicht als rechtswidrig und darf nicht aufgelöst werden, sofern die Behörde dabei nicht verleumdet wird oder Gewalthandlungen oder Drohungen eingesetzt werden, um sie einzuschüchtern oder von ihr eine Entscheidung im gewünschten Sinne zu erzwingen“. Dies entspricht vom Inhalt her Artikel 22 des IPbpR.

Das Tribunal konnte feststellen, dass Führer von Berufsverbänden, Gewerkschaften und Vereinigungen, so etwa Mitglieder der Volksunion der Straßenverkäufer „28. Oktober“ in der Stadt Puebla, soziale Aktivisten und Personen, die sich für bessere Lebensbedingungen zusammenschlossen oder zusammenschließen, für ihre Rechte protestieren und Gerechtigkeit fordern, unterdrückt, kriminalisiert und inhaftiert wurden.

7.2.6 Freizügigkeit

Das Recht auf Freizügigkeit wird in Artikel 11 der Verfassung sowie in Artikel 9 des IPbpR und Artikel 7 der AMRK anerkannt. Nach der Verfassung und den internationalen Abkommen kann eine Person nur dann festgenommen werden, wenn sie entweder bei der Begehung einer Straftat auf frischer Tat betroffen wird, wobei sie umgehend einem zuständigen Richter vorzuführen ist, oder wenn ein zuständiger Richter die Festnahme anordnet.

Das Tribunal musste in der überwiegenden Mehrheit der Fälle feststellen, dass Personen festgenommen wurden, weil sie – oftmals friedlich – protestierten, was keine frische Tat im vorgenannten Sinne darstellt. Eine gerichtliche Anordnung lag erst recht nicht vor. Die Festnahmen waren meist begleitet von Schlägen und Misshandlungen. Eindeutige Hinweise auf ein solches Vorgehen lieferten unter anderem die Schilderungen der Erdölarbeiter – übermittelt durch die Facharbeitergewerkschaft von PEMEX (UNTyPP) –, der Arbeitnehmer des Bildungswesens – übermittelt durch die Lehrergewerkschaft CNTE – und der Elektroarbeitnehmer – übermittelt durch die Elektrikergewerkschaft SME.

7.2.7 Recht auf ein faires Verfahren und rechtliche Garantien

Das Recht auf ein faires Verfahren und rechtliche Garantien umfasst das Recht auf Gesetzmäßigkeit, auf einen unabhängigen und unparteiischen gesetzlichen Richter, auf Verteidigung und rechtliches Gehör, auf Widerspruch, darauf, dass verfassungs- bzw. gesetzeswidrig erlangte Beweise weder erhoben noch gewürdigt werden, auf ein Verbot von Hausdurchsuchungen, auf eine Festnahme auf Anordnung eines zuständigen Richters, auf ein Verbot der Isolationshaft, auf Zugang zu einer rasch handelnden, umfassenden und unparteiischen Justiz, auf eine eingeschränkte und nur in Ausnahmefällen stattfindende Freiheitsberaubung während des Verfahrens, darauf, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt zu werden, und auf das Einlegen von Rechtsmitteln. All diese Rechte werden in den Verfassungsartikeln 13 bis 23 anerkannt und ergänzen bzw. stehen in Einklang mit Artikel 14 des IPbpR und den Artikeln 8 und 25 der AMRK.

Bei den Gerichtsverfahren gegen die Demonstranten konnte nach dem, was in den Anhörungen geschildert wurde, nicht von einem fairen Verfahren gesprochen werden. Viele Personen wurden nicht angehört, hatten keinen Verteidiger an ihrer Seite, wurden isoliert, wussten nicht, was ihnen vorgeworfen wurde, und waren Verfahren ausgesetzt, die sich über viele Jahre hinzogen. Die Justiz hielt sich dabei ohne jegliche Hinterfragung an die Darstellung der Polizei oder der Repressivorgane. Als die Opfer vor Gericht erschienen und wegen der Verletzung von Menschenrechten eine Untersuchung und Bestrafung forderten, wurde ihnen ebenso wenig ein faires Verfahren zugestanden: sie wurden nicht angehört, die Justiz reagierte nicht, es wurden keine Beweise erhoben und eine Verurteilung blieb schließlich aus. Mit anderen Worten, die Betroffenen kamen sowohl als Angeklagte als auch als Opfer, die Gerechtigkeit forderten, nicht in den Genuss eines fairen Verfahrens.

Wie schwierig der Zugang zur Justiz ist, wurde etwa am Beispiel der Arbeiter des Stromversorgers Luz y Fuerza del Centro oder der Angehörigen der verunglückten Bergarbeiter im Bergwerk Pasta de Conchos dokumentiert.

7.3 Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hatte verheerende Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Würde des Großteils der mexikanischen Bevölkerung.

Nach Angaben des Nationalen Rates für die Beurteilung der Sozialentwicklungspolitik (Consejo Nacional de Evaluación de la Política de Desarrollo Social – CONEVAL) gab es 2012 in Mexiko 53,3 Millionen Arme, wovon fast die Hälfte Frauen waren. Die Gehälter entsprechen heute einem Viertel ihres Wertes von 1975 und die informelle Beschäftigung beträgt bis zu 60 %.

Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunderlich, dass im Rahmen der Anhörungen eine Reihe von Verletzungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte nachgewiesen werden konnten, so etwa folgende:

7.3.1 Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte

Ausgehend von den durchgeführten Anhörungen und den Zeugenaussagen stellt das STV fest, dass die in Artikel 123 der mexikanischen Verfassung und in den Artikeln 6 und 9 des Zusatzprotokolls zur Amerikanischen Menschenrechtskonvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1988 (Protokoll von San Salvador) eingeräumten Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte weithin verletzt werden. Diese Rechte werden des Weiteren in zahlreichen Bestimmungen des mexikanischen Arbeitsgesetzes (Ley Federal del Trabajo) sowie in den wichtigsten internationalen Übereinkommen zu Arbeitnehmerrechten anerkannt. Dazu zählen: Vereinigungsfreiheit (Übereinkommen Nr. 87); Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen (Übereinkommen Nr. 98); gleiches Entgelt für Männer und Frauen (Übereinkommen Nr. 100); Nichtdiskriminierung (Übereinkommen Nr. 111); Mindestalter hinsichtlich der Beseitigung von Kinderarbeit (Übereinkommen Nr. 138); Zwangsarbeit (Übereinkommen Nr. 29 und 105); Mindestlöhne (Übereinkommen Nr. 131); Arbeit von Frauen (Übereinkommen Nr. 45, 89 und 103); maximale Arbeitszeit (Übereinkommen Nr. 1, 30, 43, 47 über die 40-Stunden-Woche (1935), 49, 153); Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz (Übereinkommen Nr. 31, 97, 155 und 161); Arbeitnehmervertretung (Übereinkommen Nr. 135); Mutterschutz (Übereinkommen Nr. 183); Arbeitsschutz in der Landwirtschaft (Übereinkommen Nr. 184); Freizeit (Empfehlung Nr. 21 von 1924 betreffend die Benützung der Freizeit der Arbeitnehmer); soziale Sicherheit (Übereinkommen Nr. 102, 118 und 157). Dazu zählen ebenfalls die Übereinkommen und Empfehlungen zum Recht auf Arbeit: Übereinkommen Nr. 122 über die Beschäftigungspolitik, Nr. 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses sowie die Empfehlungen Nr. 122 über Beschäftigungspolitik und Nr. 169 von 1984 mit ergänzenden Bestimmungen zu demselben Thema.

Mexiko hat einen Teil der hier aufgeführten Übereinkommen wohlgemerkt nicht ratifiziert, darunter Übereinkommen Nr. 98 über das Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen (es gehört somit zu den 23 der insgesamt 183 Mitgliedstaaten der IAO, die es nicht ratifiziert haben). Ebenso wenig hat es das Übereinkommen Nr. 138 über das Mindestalter hinsichtlich der Beseitigung von Kinderarbeit ratifiziert.

Dennoch ist der mexikanische Staat verpflichtet, die IAO über die zur Anwendung der Übereinkommen getroffenen Maßnahmen zu unterrichten (Artikel 19 Absatz 5 Buchstabe e) der IAO-Verfassung) und die Übereinkommen einzuhalten (Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, angenommen im Juni 1998 durch die Internationale Arbeitskonferenz).

Es wurden im Wesentlichen folgende Rechte verletzt:

Recht auf Arbeit
Eine Verletzung des Rechts auf Arbeit hat Auswirkungen, die über den beruflichen Bereich hinausgehen, schließlich werden das Leben des Einzelnen an sich beeinträchtigt und das familiäre Gleichgewicht und die sozialen Bindungen zerstört. Sehr häufig ist eine Praxis festzustellen, bei der Beschäftigte aufgrund von Unternehmensprivatisierungen oder als Reaktion auf eingeforderte Arbeitnehmerrechte, insbesondere des Rechts auf Vereinigungsfreiheit, ohne triftigen Grund entlassen oder zur Eigenkündigung gezwungen werden. Dokumentiert sind entsprechende Fälle für die Arbeitnehmer von Atento; die Unabhängige Gewerkschaft der Arbeitnehmer des Ministeriums für öffentliche Sicherheit (Sindicato Independiente de Trabajadores de la Secretaría de Seguridad Pública Federal – SINTSSPF); das Unternehmen CYCSA; die Nationale Hochschule für technische Berufsausbildung (Colegio de Educación Profesional Técnica – CONALEP DF); die Eisenbahner, von denen Tausende im Zuge der Privatisierung des Unternehmens FNM entlassen wurden; die Arbeitnehmer der staatlichen Behörde für Familienförderung (Sistema para el Desarrollo Integral de la Familia – DIF) im Hauptstadtdistrikt; die akademischen Angestellten und führenden Gewerkschaftsvertreter des Mineralölkonzerns PEMEX; die Arbeitnehmer der Fluggesellschaft Mexicana de Aviación sowie die Arbeitnehmer des Stromversorgers Luz y Fuerza del Centro. In allen dem Tribunal geschilderten Fällen wurde außerdem angeprangert, dass zur Eindämmung des sozialen Unmuts und jeglicher Kritik an den beschäftigungspolitischen Entscheidungen des Staates Sicherheitskräfte eingesetzt wurden, so etwa im Fall der Elektrikergewerkschaft SME, als Arbeitnehmer aus politischen Gründen festgenommen wurden, oder bei der Ermordung von Mitgliedern der Lehrergewerkschaft CNTE in Guerrero, Chiapas und Oaxaca.

Vereinigungsfreiheit
Es hat sich gezeigt, dass die Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit in der Praxis behindert wird und Gewerkschaften bei ihrer Tätigkeit mitunter massiven Verfolgungen ausgesetzt sind. Dies trifft zu auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Atento, Sektion 187 der Telekommunikationsgewerkschaft (Sindicato de Telefonistas de la República Mexicana – STRM); die SINTSSPF; das Unternehmen Construcciones S.A. de C.V. CYCSA, eine Tochtergesellschaft von Telmex; die Mitglieder der Unabhängigen Nationalen Gewerkschaft der Arbeitnehmer des Gesundheitssektors (Sindicato Independiente Nacional de Trabajadores de Salud – SINTS), die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der weiterführenden Bildungsanstalt „Instituto de Educación Media Superior“ (IEMS); die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Fluggesellschaft Mexicana de Aviación; die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Nationalen Hochschule für technische Berufsausbildung CONALEP; die Mitglieder der Arbeiterunion des IEMS (Sindicato de la Unión de Trabajadores del Instituto de Educación Media Superior – SUTIEMS) und die Arbeitnehmer des staatlichen Unternehmens PEMEX.

Recht auf Tarifverhandlungen
Dokumentiert wurde außerdem eine Verweigerung von Tarifverträgen, wodurch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Möglichkeit genommen wird, Aspekte des Arbeitsverhältnisses wie etwa Gehälter, Arbeitszeiten, Pausen, Kündigungsverfahren und Arbeitsbedingungen im Allgemeinen festzulegen und zu regeln. Unter den geschilderten Fällen treten hierbei besonders die Fälle der Beschäftigten von Atento hervor sowie der Fall der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von CYCSA, von SUTIEMS, der Fall der Arbeitnehmerinnen der staatlichen Behörde für Familienförderung (SNDIF) im Hauptstadtdistrikt oder der Fall der Fluggesellschaft Mexicana de Aviación.

Anspruch auf Rentenleistungen
Es wurde festgestellt, dass durch die vom Staat geförderte Auslagerung von Aufgaben (so genanntes Outsourcing) die Arbeitnehmerrechte untergraben werden, insbesondere der Anspruch auf Rentenleistungen. Die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen ist durch die verschiedenen Regierungen im untersuchten Zeitraum unter anderem damit gerechtfertigt worden, dass die Zahlung von Renten an pensionierte Arbeitnehmer eine hohe Belastung darstellen würde. Deshalb wurde immer stärker auf das Modell der Fremdvergabe gesetzt, das faktisch nicht nur den Staat davon „befreit“, dem Anspruch auf Rentenzahlungen nachzukommen, sondern bei dem sich auch die Subunternehmer durch entsprechende Maßnahmen davor drücken können. Vorwürfe dieser Art erheben beispielsweise die Arbeitnehmerinnen des Instituto de Educación Media Superior (IEMS) im Hauptstadtdistrikt. Ein weiterer besonders bezeichnender Fall sind die mehr als 30 000 pensionierten Mitarbeiter der staatlichen Eisenbahngesellschaft Ferrocarriles Nacionales de México.

Recht auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen
Allgemein kennzeichnend für die Situation der Arbeitnehmer in Mexiko sind die schlechten Arbeitsbedingungen. Abgesehen von der schlechten Bezahlung sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Regel Risiken während der Arbeitszeit, Einschränkungen verschiedenster Art und schlechten Sicherheits- und Hygienebedingungen ausgesetzt; zudem fehlt es an Krankenstationen für Notfälle. In vielen Fällen werden die bereits prekären Arbeitsbedingungen, wie im Fall der Beschäftigten von Atento, noch durch Mobbing und sexuelle Belästigungen verschlimmert. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen länger arbeiten als vertraglich vereinbart, so etwa die Frauen der Behörde DIF im Hauptstadtdistrikt, die Arbeitnehmer von Atento, der Hochschule CONALEP, der SINTSSPF, die Schalterbeschäftigten des ÖPVN-Betreibers STC Metro DF oder die Beschäftigten des IEMS.

Zum anderen kommt es durch die langen Arbeitszeiten und fehlenden Sicherheitsvorkehrungen immer wieder zu Arbeitsunfällen im ganzen Land. Von den Arbeiterinnen und Arbeitern der UNTyPP wurde ein Unfall dokumentiert, der sich am 30. Juni 2011 in der Raffinerie von Tula (Hidalgo) ereignete und bei dem drei Arbeiter ums Leben kamen und zahlreiche Menschen verletzt wurden, sowie ein am 19. Februar 2006 durch eine Explosion ausgelöstes Unglück in einem Kohlebergwerk namens Mina 8 Unidad Pasta de Conchos (Coahuila), das sich im Eigentum der zum Konzern Grupo México gehörenden Industrial Minera México, S.A.B de C.V. (IMMSA) befindet; bei diesem Unglück kamen 65 Bergarbeiter ums Leben, acht weitere wurden verletzt.

Spezifische Rechte berufstätiger Frauen
Es wurde festgestellt, dass Frauen im beruflichen Umfeld einem hohen Maß an Diskriminierung ausgesetzt sind. Zu den dokumentierten Formen der Diskriminierung zählen neben den Schwierigkeiten, überhaupt an Arbeit zu kommen, die Lohndiskriminierung und die Abdrängung in geschlechtsspezifische Beschäftigungen. Frauen sind außerdem sexuellen Belästigungen, Einschüchterungen und Schikanen am Arbeitsplatz ausgesetzt. Festgestellt wurden solche Vorfälle bei den Arbeitnehmerinnen des IEMS und der Behörde DIF im Hauptstadtdistrikt, den Arbeitnehmerinnen von AVON Cosmetics oder des Nationalen Fraueninstituts INMUJERES (Hauptstadtdistrikt).

Es wurde nachgewiesen, dass Sexarbeiterinnen von den kommunalen, bundesstaatlichen und nationalen Behörden ihrer Rechte beraubt, schikaniert und kriminalisiert werden und dass die Behörden sich weigern, das von der Bundesgerichtsbarkeit verfügte Urteil im Amparo-Verfahren 212/2013 umzusetzen, mit dem die Regierung des Hauptstadtdistrikts verpflichtet wurde, Sexarbeiterinnen als selbständige Arbeitnehmerinnen anzuerkennen.

7.3.2 Rechte von Wanderarbeitnehmern und ihren Familien

Bei der Verletzung der Menschenrechte von Migranten besteht eine Verantwortung seitens ihrer Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten, d. h. der USA, Kanadas und der Herkunftsländer der Opfer des Massakers von San Fernando: Guatemala, Honduras, El Salvador, Ecuador und Brasilien.

Die Menschenrechtsaspekte werden dabei geregelt durch die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen von 1990. Für die strafrechtlichen Aspekte maßgeblich ist das Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aus dem Jahr 2000 (von Mexiko ratifiziert am 4. März 2003), mit dem der Straftatbestand der „Schleusung von Migranten“ geschaffen wird, wenn die illegale Einreise einer Person in einen Vertragsstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzt oder in dem sie keine Berechtigung zum ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel herbeigeführt wird, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen. Beide Texte gelten für Mexiko.

Bei der Anhörung zum Thema „Migration, Vertreibung und Flucht“ (29. September – 1. Oktober 2014) wurde über die Lage der verschiedenen Migrantengruppen berichtet, und zwar sowohl der Mexikaner, die in die USA und nach Kanada auswandern, als auch der Migranten aus anderen Ländern, die Mexiko auf dem Weg in die USA durchqueren. Sie alle sind in hohem Maße gefährdet und werden auf unterschiedliche Weise in ihren Rechten verletzt. Diese Unterschiede sind abhängig von ihrem rechtlichen Status (mit oder ohne Ausweispapiere), der Art ihrer Unterbringung und Aufenthaltsdauer (befristete oder dauerhafte Beschäftigung), ihrer ethnischen Herkunft (Indigene und Mestizen), dem Geschlecht (Mann oder Frau), dem Alter (Erwachsene, Jugendliche oder Kinder), dem Wirtschaftssektor (Landwirtschaft, Industrie oder Dienstleistungen), der Berufserfahrung, dem Bildungsniveau, der sozialen Einbindung, der Herkunftsregion und der Region ihrer letztendlichen Beschäftigung. Die Daten, die von in Migrantenhilfszentren tätigen Menschenrechtsaktivisten vorgelegt wurden, veranschaulichen die völlige Schutzlosigkeit der durchreisenden Migranten, die durch die Verschärfung der gesetzlichen Auflagen in Mexiko infolge der Sicherheitsforderungen der USA in die Illegalität gedrängt und kriminalisiert wurden.

Es wurden vielfache Verletzungen von Rechten dokumentiert, so etwa des Rechts auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit, auf Freiheit, auf ein faires Verfahren, auf die notwendigsten materiellen Güter und auf Gesundheit. Es handelt sich dabei um Morde (auch für den Organhandel), Entführungen, Erpressungen, körperliche Angriffe, Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauch unterschiedlichster Art, Freiheitsberaubung, Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen, Zwangsarbeit usw. Begangen wurde all diese Taten sowohl von Staatsbeamten (Einwanderungsbehörden, nationale, bundesstaatliche und örtliche Polizeikräfte) als auch durch das organisierte Verbrechen unter Absprache mit bzw. mit Zustimmung der staatlichen Behörden (z. B. der Güterzug „La Bestia“ [das Biest]) sowie auch von in den USA ansässigen Privatunternehmen (z. B. Überweisungsdienstleister wie Western Union, Elektra und MoneyGram), die internationale Geldtransfers abwickeln und die auf die Entwicklung der an Migranten verübten Verbrechen einen Einfluss hatten.

In den schlimmsten Fällen wurden Massenentführungen von Migranten und Massaker verzeichnet, wie bereits an anderer Stelle beschrieben. Besonders gravierend ist in diesem Zusammenhang der Vorfall auf der Ranch San Fernando (Tamaulipas) im August 2010, bei dem 72 Migranten ermordet wurden. Dabei handelte es sich lediglich um eine der über 200 Massenentführungen von Migranten, die im Jahr 2010 stattfanden.

Obwohl Mexiko im Oktober 2013 ein „Protokoll über das Vorgehen der Rechtspflegeorgane in Fällen, die Migrantinnen und Migranten und Personen betreffen, die internationalen Schutz benötigen“ angenommen hat, genießen Migranten keinen wirksamen rechtlichen Schutz.

Die Herkunftsländer der Migranten (Mexiko, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua) kommen wiederum ihrer Verpflichtung nicht nach, im Lande selbst die Ausübung der Menschenrechte zu gewährleisten und ihrer Verletzung vorzubeugen. Außerdem entziehen sich die Herkunftsländer unabhängig davon, ob sich die Migranten auf der Durchreise oder im Zielland befinden, ihren Verpflichtungen hinsichtlich des Rechts auf konsularische Betreuung.

7.3.3 Recht auf Gesundheit

Dieses Recht ist in Artikel 10 des Protokolls von San Salvador zur AMRK verankert.
Trotz der vermutlich erheblichen gesundheitlichen Auswirkungen durch die veränderten Ernährungsgewohnheiten oder das hohe Maß der Boden-, Wasser- und Luftverschmutzung in Mexiko fehlt es an einer gezielten staatlichen Politik, bei der die verschiedenen Formen der Beeinflussung, Schädigung und Gefährdung der Umwelt durch die Tätigkeit des Menschen systematisch und umfassend berücksichtigt werden, sodass von einer offenkundigen fahrlässigen Verletzung des Rechts auf Gesundheit gesprochen werden kann, welches in Artikel 2 (indigene Völker) bzw. Artikel 4 (allgemein) der mexikanischen Verfassung anerkannt wird.

Einer der vielen angeprangerten Fälle betrifft den Staudamm Endhó, der in den 70er Jahren ohne Einwilligung der örtlichen Gemeinschaften errichtet wurde. Der Stausee entwickelte sich zum Auffangbecken für die Abwässer des Hauptstadtdistrikts und verseuchte den Fluss Tula. Vertreter des Unabhängigen Bundes der Landarbeiter und Bauern (Federación Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos – FIOAC) machten darauf aufmerksam, dass um den Stausee herum Tausende von Menschen an diversen Magen-Darm-, Atemwegs-, Haut- und Krebserkrankungen leiden.

7.3.4 Recht auf Ernährung

Das Recht auf Ernährung ist in Artikel 4 der mexikanischen Verfassung und in Artikel 12 des Zusatzprotokolls von San Salvador zur AMRK verankert.

1983 kündigte Staatspräsident Miguel de la Madrid an, dass eine Million Kleinbauern keine staatlichen Kredite mehr erhalten würden; ein Jahr später fügte er eine weitere Million hinzu. Mit der Entscheidung zur Abschaffung der staatlichen Stützungskredite nahm der allmähliche Abbau des staatlichen Systems zur Unterstützung der Landbevölkerung seinen Anfang.

Präsident Salinas beschleunigte diesen Abbau und trieb 1992 die Verfassungsreform voran, die es ermöglichte, Ejido-Land auf dem Markt anzubieten. Nach und nach übernahm die Agrarindustrie die Kontrolle über einen Großteil der Ejidos. Dieser Prozess wurde während der nachfolgenden Präsidentschaften nicht aufgehalten, sondern noch verstärkt.

Was hierbei wirklich zutage tritt, ist die klare Absicht, den Völkern und Gemeinschaften die Fähigkeit zur eigenständigen Subsistenzsicherung und Bewahrung ihrer Lebensweisen zu nehmen, um sie zwangsweise dem globalisierten agroindustriellen Markt einzuverleiben.

Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel von Mais, dessen Tragweite über Mexiko hinausreicht. 1971 exportierte Mexiko Mais. Bedingt durch die staatliche Politik werden aktuell kaum mehr als 20 Mio. Tonnen Mais pro Jahr erzeugt. Die Produktion ist im letzten Jahrzehnt ins Stocken geraten, dafür nimmt die Einfuhr – derzeit gut 10 Mio. Tonnen – Jahr für Jahr zu. Die Einfuhrrechnung für Mais belief sich 2011 auf 2,5 Mrd. Dollar und lag 2012 noch darüber.

Im Gutachten der Anhörung zum Thema Angriff auf den Mais, die Ernährungssouveränität und die Autonomie der Völker (Mexiko-Stadt, 19.-21. November 2013) heißt es dazu: „Der durch diese Politik hervorgerufene Verlust der Ernährungssouveränität äußert sich maßgeblich in einer Veränderung der mexikanischen Ernährungsweise mit katastrophalen Folgen. Mexiko hat eine der weltweit höchsten Raten an Menschen mit Übergewicht, Diabetes und erhöhtem Blutdruck. Es belegt weltweit Platz Eins beim Pro-Kopf-Konsum von Cola-Getränken und einen der ersten Plätze beim Konsum von so genanntem Junk-Food. Gleichzeitig geht der Genuss von Maiserzeugnissen erstmals in der Geschichte des Landes zurück“.

Parallel dazu gab es eine Strategie zur Verbreitung von gentechnisch verändertem Mais, die von den großen Unternehmen der Branche vorangetrieben und von den mexikanischen Regierungen und teils auch Wissenschaftskreisen nachhaltig unterstützt wurde. Sie äußerte sich in entsprechenden Einfuhren und auch in neuen Rechtsvorschriften (Gesetz über die biologische Sicherheit genetisch veränderter Organismen – Ley de Bioseguridad de Organismos Genéticamente Modificados – von 2005 und seine Durchführungsverordnung von 2008; Gesetz über die Erzeugung, Zertifizierung und das Inverkehrbringen von Saatgut – Ley de Producción, Certificación y Comercialización de Semillas – von 2007), was eine Verunreinigung des natürlichen Maises zur Folge hatte, wie von der Volksgruppe der Zapoteken der Sierra Norte de Oaxaca, Vertretern aus El Porvenir, Gemeinde San José el Progreso, Bezirk Ocotlán (Oaxaca) oder aber Vertretern aus der Region der Mixteken moniert wurde oder aus einer Studie des Netzwerks zum Schutz des Maises (Red en Defensa del Maíz) hervorgeht. Dadurch wird die Existenz der Menschen gefährdet und abgesehen von der Ernährungssouveränität auch die kulturelle Identität und die Lebensweise der bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften beeinträchtigt.

Die Verunreinigung durch genetisch veränderte Organismen hatte auch andernorts Folgen, so etwa für die Imker auf der Halbinsel Yucatán durch GV-Soja.

Hervorzuheben ist hierbei die Entscheidung des Richters Jaime Manuel Marroquín des Bundesgerichts Nr. 12 erster Instanz in Zivilsachen in Mexiko-Stadt, der im Oktober 2013 anordnete, alle Pflanzungen von GV-Mais im Land einzustellen und die Erteilung von Genehmigungen zur Freisetzung des betreffenden Saatguts zu Versuchszwecken, für Modellvorhaben oder zur Vermarktung auszusetzen.

Im Gutachten der Anhörung zum Thema Angriff auf den Mais, die Ernährungssouveränität und die Autonomie der Völker (Mexiko-Stadt, 19.-21. November 2013) heißt es dazu: „Die Auferlegung eines intensiven, industriellen Agrarmodells – mit GVO als einem seiner extremsten Mittel – durch den mexikanischen Staat und Konzerne des Agrobusiness wie Monsanto, Dupont, Syngenta, Bayer, Dow, BASF oder Cargill stellt nicht nur einen Angriff auf eine Kultur dar, sondern einen regelrechten Krieg gegen die Subsistenz, der forciert wird durch das Ersinnen von Gesetzen, die eine Bewahrung der bäuerlichen Landwirtschaft und der eigenständigen Erzeugung verhindern und einen Ermessensmissbrauch im Sinne der Definition der IAMRK im Fall Gallardo darstellen“.

7.3.5 Recht auf Bildung

Das Recht auf Bildung wird durch verschiedene internationale Rechtsinstrumente anerkannt und garantiert, so etwa durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 26), das Zusatzprotokoll zur Amerikanischen Menschenrechtskonvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Artikel 13 und 14) oder den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Artikel 13). Gleiches gilt für Artikel 3 der mexikanischen Verfassung.

Die von den neoliberalen Regierungen in Mexiko betriebene Bildungspolitik führte indessen zu einer Verschlechterung des öffentlichen Bildungswesens, und zwar zugunsten einer Privatisierung, welche die Ausgrenzung eines Großteils jener Mexikaner fördert, die in ländlichen und indigenen Dörfern und Gemeinden leben. Außerdem wurde auf die Berufsgruppe der Lehrer sowohl im Hinblick auf ihre Arbeitsbedingungen als auch zur Einschränkung ihrer Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie zur Unterdrückung jeglichen Protests, auch seitens der Eltern oder Schüler, kontinuierlich Druck ausgeübt.

7.4 Recht auf gesunde Umwelt

Das Recht auf eine gesunde Umwelt ist in Artikel 11 des Zusatzprotokolls von San Salvador zur AMRK verankert.

Die Anhörungen, insbesondere die Anhörung zur Umweltzerstörung, haben genau das an den Tag gebracht, was die Anklage wie folgt formulierte: „eine entfesselte strukturelle Gewalt gegen die Natur und die indigene, bäuerliche und die einfache städtische Bevölkerung, die entrechtet, vertrieben oder zu einem Leben in einer geschädigten Umwelt gezwungen wird, um auf diese Weise eine Landnahme im großen Stil durchzusetzen, damit private Firmen eine irrationale Nutzung und rücksichtslose Ausplünderung der natürlichen Ressourcen des Landes betreiben und mit den potenziellen Gewinnen spekulieren können“.

Im Gutachten der Anhörung zum Thema „Umweltzerstörung und Rechte der Völker“ (Mexiko-Stadt, 15.-17. November 2013) heißt es dazu:

„[…] die Verbreitung der handelsbasierten Weltanschauung in ihrer neoliberalen Ausprägung ist bisher beispiellos und völlig außer Kontrolle geraten. Diese Weltanschauung begreift Bäume, Flüsse, Erde, Berge nicht als Wesen mit eigener Würde und eigenen Rechten, sondern als Teil einer Welt mit „natürlichen Ressourcen“ und „natürlichem Kapital“, d. h. als Güter und Dienstleistungen, die darauf warten, dass man in sie investiert, um nach ihrem Austausch auf einem Markt produktiv konsumiert zu werden. Ziel dieses Prozesses ist eine in der Geschichte der Menschheit beispiellose Akkumulation, deren verheerendes Ergebnis ein fast vollständiger Verfall des Planeten und seiner Böden, Meere, Flüsse, Seen, Wälder, Wiesen, Flusseinzugsgebiete und weiterer Orte war, was in gleicher Weise für die dort seit jeher ansässigen Bevölkerungsgruppen und die Art und Weise gilt, wie sie denken, leben und sich mit dem Universum austauschen“.

Die in den Voranhörungen und der ergänzenden Anhörung zur Umweltzerstörung erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf sozioökologische Probleme in 433 Kommunen in 21 Bundesstaaten, in denen etwa 40 Millionen Menschen leben, d. h. ein Drittel der mexikanischen Bevölkerung. Mexiko erlebt eine Umweltkrise von gewaltigem Ausmaß: 70 % der Flüsse des Landes sind stark verschmutzt; innerhalb von 30 Jahren hat sich Anzahl übernutzter Grundwasservorkommen verdreifacht; das Land steht hinsichtlich des Verlustes der biologischen Vielfalt und der Wälder an einer der vordersten Stellen; mehr als 80 % der gefährlichen Industrieabfälle werden nicht angemessen entsorgt und nur 15 % der städtischen Mülldeponien erfüllen teilweise die Umweltvorschriften. Es besteht somit eine massive und systematische Verletzung des Rechts auf eine gesunde Umwelt, das in Artikel 4 der mexikanischen Verfassung verankert ist und durch das Allgemeine Gesetz über das ökologische Gleichgewicht und den Schutz der Umwelt (Ley general del equilibrio ecológico y la protección al ambiente) von 1988 umgesetzt wird.

Nach Angaben der Umweltbehörde PROFEPA wurden in den 632 Tagen zwischen dem 1. Dezember 2012 (als Enrique Peña Nieto das Präsidentenamt antrat) und dem 25. August 2014 insgesamt 1124 Umweltnotfälle verzeichnet, von denen 45 % Petróleos Mexicanos und der Rest privaten Unternehmen insbesondere aus dem Chemie-, Petrochemie- und Bergbausektor zugeschrieben werden konnten. Am stärksten betroffen waren dabei die Bundesstaaten Veracruz, Guanajuato, Tamaulipas, Puebla y Tabasco.

Besonders gravierend ist der Zustand des Wassers in ganz Mexiko, was mehrfach angeprangert wurde, so etwa im Fall des Independencia-Beckens in Guanajuato. Anstatt dem menschlichen Konsum, der Ernährungssouveränität und einem ökologisch vertretbaren Wasserfluss Priorität einzuräumen, wie es das in der mexikanischen Verfassung (Art. 4) verankerte Konzept der gleichberechtigten und nachhaltigen Nutzung vorsieht, werden Bergbau, Petrochemie und industrielle bzw. agroindustrielle Vorhaben bevorzugt, d. h. Projekte, die nicht nur enorm viel Wasser beanspruchen, sondern es durch entsprechende Einleitungen in die Umwelt auch unbrauchbar machen.

Durch die Beanspruchung und Zerstörung der Einzugsgebiete und die Übernutzung und Verschmutzung Dutzender Grundwasserspeicher müssen bereits jetzt unter horrendem wirtschaftlichen, energetischen und ökologischen Aufwand Millionen Kubikmeter Wasser zwischen Einzugsgebieten hin- und hergeleitet werden, was in den ausgebeuteten Gebieten zwangläufig zu Migrationen führt sowie zum Verschwinden von Gemeinschaften und Kulturen, zur Vergiftung und gesundheitlichen Schädigung Tausender Menschen in den ausgeplünderten Regionen und zur Beraubung des mit dem Wasser verbundenen natürlichen, kulturellen und religiösen Erbes, das die Lebengrundlage der Völker bildet. Dieses Modell macht das Recht der Völker auf Zugang zu ihren Territorien, Gewässern und biokulturellen Gepflogenheiten sowie auf deren Nutzung und Bewahrung zunichte und begünstigt die Abschaffung der lokalen Subsistenzwirtschaft. Dies ist umso gravierender, wenn man bedenkt, dass Mexiko eine Biodiversität, ethnische Vielfalt und Agrobiodiversität wie kaum ein anderes Land der Welt aufweist.

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Urteils bestehen in Mexiko Konflikte im Zusammenhang mit etwa acht Großprojekten für Wasserüberleitungen zwischen Einzugsgebieten: 1) das Aquädukt Independencia u. a. zugunsten des Automobilkonzerns Ford in Hermosillo (Sonora); 2) das Projekt Monterrey VI, mit dem vor allem für die Schiefergasförderung Wasser aus dem Einzugsgebiet des Flusses Pánuco zwischen den Bundesstaaten Tamaulipas und Veracruz nach Nuevo León umgeleitet werden soll; 3) das Projekt El Zapotillo zwischen den Bundesstaaten Jalisco und Guanajuato zur Versorgung der Automobilindustrie im Industriekorridor León-Silao; 4) das Projekt Costa de Oro zur Umleitung von Wasser aus Nayarit in den Süden von Sinaloa für die exportierende Agroindustrie; 5) das Projekt Bandera Blanca, mit dem der Fluss Atoyac gleich an seiner Quelle in Amatlán de los Reyes für die Industrie in Córdoba (Veracruz) ausgebeutet werden soll; 6) das geplante Aquädukt zur Versorgung des Wärmekraftwerks Huexca (Morelos) mit Wasser des Flusses Cuautla; 7) die vierte Etappe des Lerma-Cutzamala-Systems zur Abzweigung von Wasser des Flusses Temascaltepec und seiner Umleitung nach Mexiko-Stadt; 8) das Aquädukt zwischen dem Stausee Lázaro Cárdenas und La Laguna (Durango) zur Versorgung der aggressiven Bergbau- und Molkereiindustrie in Torreón (Coahuila), Gómez Palacio und Lerdo (Durango).

In den vergangenen Monaten ist es durch mehrere Unfälle zu schweren Wasserverschmutzungen gekommen: Am 6. August 2014 leitete das zum mexikanischen Bergbaukonzern Grupo México gehörende Unternehmen Buenavista del Cobre 40 Mio. Liter Kupfersulfat und andere toxische Substanzen (wie Arsen, Aluminium, Kadmium, Chrom, Eisen, Mangan und Blei) in einen Bach ein, der in den Fluss Bacanuchi mündet, der wiederum in den Fluss Sonora mündet; dieser speist den Stausee El Molinito, der Hermosillo, die Hauptstadt des Bundesstaates Sonora, mit Wasser versorgt. Von dieser Verschmutzung waren auch das Grundwasser und 322 Brunnen betroffen, über welche die Bevölkerung von neun Kommunen im Bundesstaat Sonora versorgt wird, womit die Zahl der betroffenen Menschen auf etwa 840 000 steigt; am 14. August 2014 leitete das Bergbauunternehmen Proyecto Magistral zwei Mio. Liter cyanidhaltiges Wasser in den Bach La Cruz ein (Gemeinde El Oro, Durango) und am 17. Oktober 2014 ließ das Bergwerk Dos Señores in Concordia (Sinaloa) 10 800 Tonnen giftige Schlämme (mit hohem Blei- und Eisengehalt) aus einem illegal erbauten Rückhaltebecken austreten – etwa acht Kilometer vom Wasserlauf des Pánuco entfernt, eines Zuflusses des Baluarte, der mehrere Ortschaften in den Gemeindebezirken von Concordia, Rosario und Escuinapa mit Wasser versorgt. Umweltstraftaten werden zwar vom mexikanischen Strafgesetzbuch erfasst (Buch 2, Titel 25 – „Verstöße gegen die Umwelt und die Umweltordnung“), doch bewirkt dies praktisch nichts.

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die vom mexikanischen Staat betriebene Verstärkung eines allgemeinen Prozesses der Vereinnahmung von Grund und Boden, Gewässern, Mineralien, Energievorkommen, Territorien, öffentlichen Einrichtungen und Diensten sowie von Infrastrukturen zugunsten von Konzerninteressen, indem Gesetze verabschiedet werden, die eine Privatisierung des nationalen Erbes und des Erbes der Völker ermöglichen. Die kürzlich beschlossene Energiereform ist ein klares Beispiel für diesen Trend.

Dabei ist die Rolle und die Verantwortung der nationalen wie transnationalen Unternehmen insofern von höchster Bedeutung, als sie die Verwüstung der Umwelt und die Verletzung der damit verbundenen Menschenrechte ermöglicht, verschlimmert oder erleichtert haben, enorme Gewinne erzielten und die verursachten Umweltkosten auf die örtliche Bevölkerung abwälzten.

In dem genannten Gutachten zur Umweltzerstörung werden ausdrücklich folgende Unternehmen erwähnt: Pfizer, Suez, Halliburton, Monsanto, Exxon Mobil, Kraft, die Bergbauunternehmen Fresnillo und Nuevo Monte de Zimapán, das Geothermiekraftwerk Los Azufres (Hidalgo, Michoacán), Arcelor Mittal (Michoacán), das Geothermiekraftwerk Humeros in Chignautla (Puebla), das Wärmekraftwerk José Aceves Pozos (Sinaloa), Solvay Fluor México (Chihuahua), Ideal Standard (Nuevo León), Empresas Ca Le de Tlaxcala, ADM Bio Productos (Sonora), das Bergwerk Bismarck (Chihuahua), Pemex-Petroquímica Morelos, Cobre de México (Hauptstadtdistrikt), Prym Fashion México (México), Power Sonic (Baja California), Arteva Specialities (Querétaro), Acabados de Calidad Tecate (Baja California), Aceites, Grasas y Derivados (Jalisco), Vivsil (Querétaro), Enerya (Nuevo León), Austin Bacis (Durango), Productos y Diseños de Mármol (Baja California), Forjas Spicer (Tlaxcala), Balatas Mexicanas (Tamaulipas), die Erdgasaufbereitungsanlage von Pemex in Matapionche, Layne de México (Sonora), die Bauunternehmen OHL und TRADECO, die Immobilienfirmen Casas Geo und Ara, Sadasi, Caabsa Eagle S.A. de C.V., die Zementhersteller Cruz Azul, Tolteca-Cemex und Lafarge, Clarimex, Cargill, FUD, Teck Cominco Ltd, das Bergbauunternehmen Esperanza Silver de México, Teilfertigungsbetriebe (sog. Maquiladoras) in verschiedenen Industriekorridoren, Wal-Mart de México, Soriana, Chedraui, Comercial Mexicana, Oxxo, 7-Eleven, Costco, Office Depot, Office Max, Home Depot und Home Mart.

7.5 Kollektive Rechte der indigenen Völker

Die Verfassung erkennt in Artikel 2 die Rechte der indigenen Völker auf Selbstbestimmung und Eigenständigkeit an, darunter auch das Recht auf freie Zustimmung in Kenntnis der Sachverhalte (IX), wenngleich die Definition der Merkmale dieser Rechte im letzten Unterabsatz von Absatz A verkehrterweise den Verfassungen und Gesetzen der Bundesstaaten überlassen wird, was deshalb als erhebliche Einschränkung des verfassungsmäßigen Rechts auf Selbstbestimmung und Eigenständigkeit aufgefasst werden kann. Die Rechte der indigenen Völker unterliegen also einer Regulierung und Einschränkung, weshalb diese Völker keine echten kollektiven Rechtssubjekte, sondern Rechtsobjekte wären. Da sich Mexiko allerdings zu den internationalen Abkommen bekennt, hat der Staat wohl die Pflicht, diese Rechte ungeachtet einer zuwiderlaufenden verfassungsmäßigen Beschränkung anzuerkennen. Eindeutig festgeschrieben sind diese Rechte im Übereinkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern sowie in der Erklärung der Vereinten Nationen über indigene Völker.

Viele der dem Tribunal vorgetragenen Schilderungen lassen erkennen, dass in Mexiko nicht nur eine komplexe ethnische Vielfalt existiert, sondern dass die Rechte der indigenen Völker seit langem, immer wieder und anhaltend verletzt werden.

Die Schilderungen der indigenen Volksgruppen Tarahumara, Triqui, Nahua, Ñahñú, Purhépecha und Tzotzil haben deutlich gezeigt, wie negativ sich die Einmischung der westlichen Kultur mit ihren politischen Parteien, Wirtschaftsinteressen und dem Abbau natürlicher Ressourcen und den daraus resultierenden inneren Spaltungen, Verletzungen der Selbstbestimmung der Völker, Gebietsstreitigkeiten, Morden, internen Konfrontationen und Schikanierungen ausgewirkt hat. Auffällig hierbei ist das häufige stillschweigende Einverständnis oder zumindest die Passivität des Staates in Bezug auf das Vorgehen privater Akteure in den Indigenengebieten.

7.6 Verbreitete Straflosigkeit

In seinem Urteil zum Fall Kolumbien stellte das STV 2008 fest:
„Die dem Tribunal im Laufe der Anhörungen vorgelegten Beweise lassen insgesamt den Schluss zu, dass eine verbreitete Straflosigkeit herrscht, die in Kolumbien sogar struktureller Natur ist, da der Staat gegen seine Verpflichtungen zur Untersuchung, Ahndung und Wiedergutmachung von Menschenrechtsverletzungen systematisch verstößt.“

Ebenso wurde an das Urteil des STV im „Prozess gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Lateinamerika“ von 1991 erinnert. Dort sprach das Tribunal von der „Entstehung einer regelrechten Kultur der Gewalt. Sie erscheint als etwas Normales und ein politisch motivierter Mord verliert seine wahre Dimension, vor allem für die Massenmedien, die über solche Vorfälle täglich berichten. Die Angst, die Verbrechen und die Verantwortlichen zur Anzeige zu bringen, bringt die Betroffenen zum Verstummen. Auf diese Weise verwandelt sich die Zerstörung des sozialen Gefüges in kulturellen Zerfall“ (Ziff. 64).

Diese Feststellungen treffen voll und ganz auf die Lage in Mexiko zu. Um nur zwei Zahlen zu nennen: Amnesty International zufolge wurden zwischen Ende 2006 und 2012 insgesamt 7441 Übergriffe der Streitkräfte angezeigt, die jedoch nur zu 27 Verurteilungen geführt haben; und nach offiziellen mexikanischen Angaben wurden 2013 von 33,1 Millionen Straftaten lediglich 6,2 % aufgeklärt. Ausgerechnet in den Tagen dieser Schlussanhörung wurden drei weitere Personen, die wegen des 1997 an Indigenen aus Chiapas verübten Massakers von Acetal verurteilt worden waren, vom Obersten Gerichtshof freigelassen, sodass nur sich noch zwei der insgesamt 102 Indigenen, die wegen der Ermordung von 45 Mitgliedern der Gemeinschaft „Las Abejas“ (Die Bienen) vor Gericht gestellt wurden, in Haft befinden. Die Anstifter zu dem Massaker wurden von der Justiz nie ermittelt.

Straflosigkeit stellt eine Verletzung der Opferrechte dar, die unter anderem anerkannt werden in der „Erklärung über Grundprinzipien der rechtmäßigen Behandlung von Verbrechensopfern und Opfern von Machtmissbrauch“, angenommen durch die Resolution 40/34 der VN-Generalversammlung vom 29. November 1985, in der Resolution 2004/34 der Menschenrechtskommission zum „Recht der Opfer schwerer Verletzungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf Restitution, Entschädigung und Rehabilitierung“ oder in den „Grundprinzipien und Leitlinien der Vereinten Nationen betreffend das Recht der Opfer von Verletzungen internationaler Menschenrechtsnormen oder des humanitären Völkerrechts auf Rechtsschutz und auf Wiedergutmachung“, die am 19. April 2005 von der Menschenrechtskommission angenommen wurden.

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat Straflosigkeit definiert als „weitgehendes Fehlen einer Ermittlung, Verfolgung, Ergreifung, Anklage und Verurteilung derjenigen, die für die Verletzung der nach der Amerikanischen Konvention geschützten Rechte verantwortlich sind“ und dabei auf Folgendes hingewiesen: „Der Staat hat die Pflicht, diese Situation mit allen verfügbaren legalen Mitteln zu bekämpfen, schließlich begünstigt die Straflosigkeit eine ständige Wiederholung von Menschenrechtsverletzungen und die völlige Hilflosigkeit der Opfer und ihrer Angehörigen“. Im bekannten Fall Barrios Altos legte der Gerichtshof Folgendes fest: „Die Straflosigkeit bei Verbrechen stellt schon für sich genommen eine Menschenrechtsverletzung dar […]. Die Staaten dürften sich nicht durch Amnestie oder sonstige Verfahren, die Straflosigkeit herbeiführen, der Pflicht zur Untersuchung, Verurteilung und Ahndung entziehen“. Des Weiteren führte er aus: „[…] unzulässig sind die Anordnung einer Amnestie, die Anordnung einer Verjährung und Maßnahmen zum Ausschluss der Verantwortung, mit denen die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche, willkürliche oder im Schnellverfahren erfolgte Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Personen – Verletzungen, die wegen ihres Verstoßes gegen unantastbare, durch internationale Menschenrechtsnormen anerkannte Rechte ausnahmslos verboten sind – verhindert werden sollen”.

Dass in Mexiko Straflosigkeit herrscht, hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte unter anderem im Zusammenhang mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez festgestellt, und zwar im Urteil zum Fall González u. a. In diesem Fall kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Staat seiner Ermittlungspflicht und damit auch seiner Pflicht zur Gewährleistung bestimmter in der AMRK niedergelegter Rechte nicht nachkam, nämlich in Bezug auf Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 der AMRK und auf Artikel 7 Buchstaben b) und c) der Konvention von Belém do Pará, und dass er die in Artikel 8 Absatz 1 und Artikel 25 Absatz 1 der AMRK niedergelegten Rechte auf Zugang zur Justiz und auf Rechtsschutz in Bezug auf Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 der AMRK und auf Artikel 7 Buchstaben b) und c) der Konvention von Belém do Pará zum Schaden der Angehörigen der Opfer verletzt hat. Er fügte hinzu: „Durch die Straflosigkeit der begangenen Verbrechen wird das Signal ausgesandt, dass Gewalt gegen Frauen toleriert wird, was ihrem Fortbestehen und der gesellschaftlichen Akzeptanz des Phänomens, dem Unsicherheitsgefühl der Frauen und ihrem bleibenden Misstrauen gegenüber der Justizverwaltung Vorschub leistet“ (Randnr. 400).

Ein Vorliegen von Straflosigkeit stellte der Gerichtshof ebenfalls im Fall Radilla Pacheco gegen Mexiko fest. In seinem entsprechenden Urteil führte er 2009 aus: „Es entgeht dem Gericht nicht, dass 35 Jahre nach der Festnahme und dem Verschwindenlassen von Herrn Rosendo Radilla Pacheco und 17 Jahre nach förmlicher Erstattung der ersten Strafanzeige in dieser Sache (siehe oben, Randnr. 183) keine ernsthaften Ermittlungen stattgefunden haben, die sowohl zur Bestimmung seines Aufenthaltsortes als auch zur Ermittlung, gerichtlichen Belangung und Bestrafung der für diese Vorfälle Verantwortlichen geführt hätten.“ (Randnr. 214).

Diese Feststellungen des Interamerikanischen Gerichtshofs treffen auf die überwiegende Mehrheit, wenn nicht sogar alle der dem STV präsentierten Fälle zu.

Deshalb war das Thema Straflosigkeit in 11 Fällen Gegenstand der Empfehlungen, die im Dezember 2013 von der Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates formuliert wurden, die ihre allgemeine regelmäßige Überprüfung der Menschenrechtslage in Mexiko im Allgemeinen und unter besonderer Berücksichtigung der Gewalt gegen Frauen, Kinder, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten vornahm.

In seinem Gutachten zur einführenden allgemeinen Anhörung in Ciudad Juárez (Chihuahua) im Mai 2012 legte das STV nicht zuletzt Folgendes dar:

„Außerdem ist der mexikanische Staat der Hauptverantwortliche für die Rechtsverletzungen an den Opfern und ihren Angehörigen, die sich aus dieser Straflosigkeit ergeben. Dies liegt vor allem an der skandalösen Respektlosigkeit, die er in den meisten Fällen ihnen gegenüber an den Tag legt, sowie an der erneuten Viktimisierung, die sie häufig erfahren, wenn sie die Verbrechen zur Anzeige bringen. Dies steht im Widerspruch zu den international anerkannten Rechten der Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.“

8. URTEIL

FESTSTELLUNG DER VERANTWORTLICHKEITEN

Im juristischen Sinne liegt „Verantwortung“ dann vor, wenn ein Subjekt für eine bestimmte Handlung bestraft werden kann. Philosophisch gesehen handelt es sich um die Pflicht und die Möglichkeit, für das eigene Handeln die Konsequenzen zu übernehmen. Im Fall der von diesem Tribunal geprüften Anschuldigungen liegt eine verbreitete Straflosigkeit, d. h. das Ausbleiben einer wirksamen Ermittlung und einer Bestrafung der Verantwortlichen, nachweislich vor. Festzustellen ist allerdings auch eine historisch gewachsene Straflosigkeit, ein Ausweichen vor der politischen Verantwortung seitens der verschiedenen staatliche Akteure, was für die Opfer dazu führt, dass ihre Rechte nicht anerkannt werden und eine mögliche Wiedergutmachung ausgeschlossen ist.

Nach Prüfung der Zeugenaussagen und der weiteren vorgebrachten Beweise gelangt das Tribunal zu dem Schluss, dass aufseiten von vier Akteuren eine rechtliche Verantwortung besteht. Dies sind der mexikanische Staat, die transnationalen Unternehmen, Drittstaaten (wie etwa die Vereinigten Staaten von Amerika oder Kanada) und internationale Institutionen (wie etwa die WTO, der IWF, die Weltbank oder die WIPO). Dabei handelt es sich jeweils um unterschiedliche Arten der Verantwortung.

8.1. Verantwortung des mexikanischen Staates:

Der mexikanische Staat trägt auf kommunaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene eine objektive internationale Verantwortung für die Verletzung der Pflicht, allen Bürgern ohne jede Diskriminierung die freie und uneingeschränkte Ausübung der Menschenrechte zu gewährleisten (Art. 1 Abs. 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention; Art. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen). Dies gilt konkret für das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, kollektiven Landbesitz, freie Meinungsäußerung, Gesundheit, eine gesunde Umwelt, menschenwürdigen Wohnraum, sozialen Protest, Vereinigungsfreiheit, menschenwürdige Arbeit, Selbstbestimmung, eigene Identität, eigene Sprache, eigene Sitten und Gebräuche, Schutz des Territoriums, Zugang zu der Justiz, Unschuldsvermutung (z. B. im Fall der vor Gericht stehenden Umweltaktivisten) sowie für das Recht auf eine freiwillige, vorab und in Kenntnis der Sachlage gegebene Zustimmung. Er trägt folglich Verantwortung für die Verletzung seiner Pflichten zur Verhütung, Untersuchung, Ahndung und Wiedergutmachung dieser Menschenrechtsverletzungen.

Der mexikanische Staat trägt auf kommunaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene gleichfalls Verantwortung für die Verletzung der Rechte, die in der mexikanischen Verfassung selbst verankert sind. Er ist verantwortlich für einen Ermessensmissbrauch (im Sinne der Definition der IAMRK im Fall Gallardo, Bericht 43/96), der sich unter anderem äußerst durch behördliche Vernachlässigung, unverantwortliche Übertragung wesentlicher Aufgaben, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Dienste mit gravierenden Folgen für die Gesundheit oder Integrität (wie der Fall des Kindergartens ABC zeigte), Aufgabe seiner Rolle, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu schützen, denen er lediglich Wohlfahrtscharakter eingeräumt oder die er geringschätzt, übermäßigen Einsatz von Sicherheitskräften zur Unterdrückung sozialer Kundgebungen (Schlägertrupps, gewaltsame Räumungen) und Zustimmung bzw. Beihilfe zu den kriminellen Machenschaften der durch diese Entscheidung verurteilten transnationalen Unternehmen.

Der mexikanische Staat trägt schließlich auf seinen drei Verwaltungsebenen besondere Verantwortung für seine Tätigkeit bzw. Untätigkeit hinsichtlich des Rechts auf eine gesunde Umwelt, was zu katastrophalen Umweltbedingungen geführt hat. Der Staat trat auf als Garant für die Straflosigkeit im Umweltbereich, da er eine doppelzüngige Politik verfolgte, bei der er einerseits für die Menschenrechte eintrat, gleichzeitig aber Gesetze erließ, die sie in einem solchen Maße verletzen, dass die Umweltbehörden nur noch als Stellen fungieren, die für die Privatwirtschaft Formalitäten abwickeln und Umweltgenehmigungen erteilen.

Da sich die vor diesem Tribunal erhobenen Vorwürfe auf zahlreiche Regierungsperioden beziehen, hat man sich beim Urteil um eine systematische Aufstellung der schwersten Straftaten nach Regierungsperioden bemüht. Verurteilt werden demnach

1. die Verantwortlichen der Regierung von Carlos Salinas de Gortari (1.12.1988 bis 30.11.1994) wegen der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (durch Ausrottungshandlungen) und wegen Verstößen gegen das Recht auf Ernährung;

2. die Verantwortlichen der Regierung von Ernesto Zedillo Ponce de León (1.12.1994 bis 30.11.2000) wegen der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (durch Ausrottungshandlungen);

3. die Verantwortlichen der Regierung von Vicente Fox Quesada (1.12.2000 bis 30.11.2006) wegen der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (durch Ausrottungshandlungen, Folter, Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen Gründen, zwangsweises Verschwindenlassen von Personen und Freiheitsberaubung);

4. die Verantwortlichen der Regierung von Felipe Calderón Hinojosa (1.12.2006 bis 30.11.2012) wegen der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (durch vorsätzliche Tötung, Ausrottung, Vergewaltigung, Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen Gründen und individuelle Verantwortlichkeiten für völkerrechtliche Verbrechen); wegen Verstößen gegen das Recht auf Ernährung und der allgemeinen Verbreitung der Straflosigkeit;

5. die Verantwortlichen der Regierung von Enrique Peña Nieto (seit 1.12.2012) wegen der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (durch vorsätzliche Tötung, Ausrottung, Versklavung, Vergewaltigung, Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen Gründen und zwangsweises Verschwindenlassen von Personen), wegen individuellen Verantwortlichkeiten für völkerrechtliche Verbrechen, wegen Verstößen gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, wegen Umweltstraftaten und wegen der allgemeinen Verbreitung der Straflosigkeit.

8.2. Verantwortung transnationaler Unternehmen

Im Völkerrecht, wie es sich heute gestaltet, trägt das klassische Paradigma des Menschenrechtsschutzes nicht mehr. Die internationalen Übereinkünfte in diesem Bereich verweisen lediglich auf die Verantwortung der Nationalstaaten, beziehen jedoch nicht die transnationalen Unternehmen mit ein, die oft mehr Macht als die Staaten selbst haben. Hinzu kommt noch der Umstand, dass die transnationalen Unternehmen üblicherweise in Ländern tätig sind, in denen weit weniger strenge Menschenrechtsstandards gelten als in ihrem Heimatland. Genau dies trifft (unter anderem) auf die US-amerikanischen und kanadischen Unternehmen zu, die in Mexiko tätig sind.

Im Bericht der Internationalen Juristen-Kommission über „Mittäterschaft von Unternehmen und rechtliche Verantwortung“ wurden Parameter für die Beurteilung transnationaler Unternehmen aufgestellt, die so gestaltet waren, dass sie auf alle transnationalen oder nationalen Unternehmen, ob staatlich oder privat, groß oder klein, in Bezug auf ihre straf- wie auch zivilrechtliche Haftung anwendbar sind.

Für die strafrechtliche Haftung müssen dem Bericht zufolge drei Umstände gegeben sein, nämlich Verursachung, Kenntnis, und Nähe. Für die Haftung eines Unternehmens sind außerdem drei Arten von Verhaltensweisen maßgeblich, nämlich solche, die Menschenrechtsverletzungen ermöglichen, verschlimmern oder erleichtern.

Im Falle der zivilrechtlichen Haftung oder des Schadensrechts legt der Bericht drei Parameter fest: Kenntnis, vorbeugende Maßnahmen und Kausalität. Er stellt klar, dass eine Haftung auch dann vorliegen kann, wenn das Verhalten nicht vorsätzlich oder fahrlässig war: die verschuldensunabhängige Haftung. Dem Bericht zufolge ergibt sich eine Haftung nicht nur durch die Verursachung eines Schadens, sondern auch dann, wenn nichts zu seiner Verhinderung unternommen oder er stillschweigend geduldet wird. Ferner müsse das Unternehmen nicht nur bestimmte Handlungen unterlassen, sondern auch Initiative ergreifen und andere schützen: „Im Schadensrecht aller Rechtsordnungen wird anerkannt, dass unter bestimmten Umständen eine Pflicht zum Handeln auferlegt werden kann“. Im Bericht heißt es außerdem, dass die Verantwortung des Unternehmens für die Überwachung des Risikos nicht bereits mit dem Verkauf seines Produkts endet, sondern für die gesamte Nutzungsdauer des Produkts besteht, und dass nicht angeführt werden könne, ein anderes Unternehmen hätte ebenfalls den Schaden verursacht: „Für das Vorliegen einer Verursachung ist unerheblich, ob eine Unzahl von Unternehmen möglicherweise das Gleiche tun würde“.

Mit der Anwendung dieser Parameter auf die transnationalen Unternehmen, die zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, gegen verschiedene Menschenrechte verstoßen und eine Verwüstung der Umwelt auf mexikanischem Boden verursacht haben, lässt sich die Haftung der erwähnten Unternehmen begründen, schließlich haben sie diese Verstöße ermöglicht, verschlimmert oder erleichtert, enorme Gewinne erzielt und die verursachten Umweltkosten auf die örtliche Bevölkerung abgewälzt.

Zwar konnten bei den Anhörungen nicht alle unternehmerischen Verantwortlichkeiten festgelegt werden, doch stellte das Tribunal fest, dass eine große Zahl von Unternehmen in unterschiedlichem Maße beteiligt war. Beschwerden liegen zu folgenden Unternehmen vor: 7-Eleven, Acabados de Calidad Tecate (Baja California), Aceites, Grasas y Derivados (Jalisco), ADM Bio Productos (Sonora), Ajusco S.A., Arcelor Mittal (Michoacán), Arteva Specialities (Querétaro), ATENTO, Austin Bacis (Durango), AVON Cosmetics S.A., Balatas Mexicanas (Tamaulipas), BASF, Bayer, Bioparques de Occidente S.A. de C.V., Caabsa Eagle S.A. de C.V., Cargill, die Zementhersteller Cruz Azul und Tolteca-Cemex, das Wärmekraftwerk José Aceves Pozos (Sinaloa), Chedraui, Clarimex, Cobre de México (Hauptstadtdistrikt), Comercial Mexicana, die Fluggesellschaft Mexicana de Aviación, die Bergbauunternehmen Fresnillo und Nuevo Monte de Zimapán, CONALEP-DF, die Bauunternehmen OHL und TRADECO, Costco, CYCSA, Dow Chemical, Dupont, Eliabra (früher MILSA S.A. de C.V.), Empaques Casillas y Bonanza, Empresas Ca Le de Tlaxcala, Enerya (Nuevo León), Exxon Mobil, FMN, Forjas Spicer (Tlaxcala), FUD, das Geothermiekraftwerk Los Azufres (Hidalgo, Michoacán), das Geothermiekraftwerk Humeros in Chignautla (Puebla), Halliburton, Home Depot und Home Mart, die Immobilienfirmen Casas Geo und Ara, Ideal Standard (Nuevo León), IEMS; Industrial Minero México, INMUJERES (DF), Kraft, Lafarge, Layne de México (Sonora), Bergwerk Bismarck (Chihuahua), das Bergbauunternehmen Esperanza Silver de México, MoneyGram, Monsanto, Nestlé, Office Depot, Office Max, Oxxo, Pemex, Pemex-Petroquímica Morelos, die Erdgasaufbereitungsanlage von Pemex in Matapionche, Pepsico, Pfizer, SNDIF (Hauptstadtdistrikt), Power Sonic (Baja California), Productos y Diseños de Mármol (Baja California), Prym Fashion México (México), Sadasi, Soriana, Solvay Fluor México (Chihuahua), SSPF, Suez, Syngenta, Teck Comico Ltd, Vivsil (Querétaro), Wal-Mart de México, Western Union.
Zur Last gelegt werden dabei je nach Unternehmen folgende Vergehen:

* Beteiligung als Urheber, Mittäter, Anstifter, Begünstiger oder Drahtzieher an der Verübung folgender Verbrechen gegen die Menschlichkeit: vorsätzliche Tötung; Ausrottung; Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung; Freiheitsentzug oder sonstige schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts; Folter; Vergewaltigung; Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen und ethnischen Gründen in Verbindung mit anderen erwähnten Verbrechen; zwangsweises Verschwindenlassen von Personen;

* schwerwiegende und massive Verletzungen der Arbeitnehmerrechte, insbesondere der Vereinigungsfreiheit;

* Täuschung ihrer Aktionäre und Verbraucher durch das Eingehen von Verpflichtungen der sozialen Verantwortung, die sie in Mexiko in flagranter Weise verletzen;

* Beteiligung an der Zerstörung der Umwelt in Mexiko;

* Verletzung der kollektiven Rechte der Urvölker auf Land, natürliche Ressourcen, Selbstverwaltung, Teilhabe und eigenständige Entwicklung.

Ungeachtet dessen ist die individuelle strafrechtliche Verantwortung der Leiter dieser Unternehmen zu klären.

8.3. Verantwortung von Drittstaaten

Das Tribunal bekräftigt, dass aus den nachfolgenden rechtlichen Erwägungen auch eine extraterritoriale Verantwortung von Drittstaaten, insbesondere der USA, Kanadas und Deutschlands, für das Vorgehen der in diesen Staaten ansässigen Unternehmen besteht.

Die Theorie der extraterritorialen Verantwortung der Staaten hat im Bereich der Menschenrechte und der diesbezüglichen Rechtsprechung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen: Wenn Staaten gewährleisten müssen, dass die in ihrem Hoheitsgebiet tätigen Unternehmen keine Menschenrechte verletzen, ist es dann zulässig, dass sie die Verletzung dieser Rechte außerhalb ihres Hoheitsgebiets erlauben?

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Auslegung des Rechtsbegriffs „Gerichtsbarkeit“. Die Staaten haben die Pflicht, die Menschenrechte aller Personen zu achten, die ihrer „Gerichtsbarkeit“ unterstehen, d. h. es besteht nicht nur eine gebietsbezogene, sondern auch eine gerichtsbarkeitsbezogene Verpflichtung. Dies bedeutet, dass der Staat die Menschenrechte sowohl derjenigen Personen zu achten hat, die sich in seinem Hoheitsgebiet befinden, als auch derer, die seiner Gerichtsbarkeit unterstehen.

In ihrem Bericht 38/99 zum Fall Saldaño gegen Argentinien führte die IAMRK aus, dass sich der Begriff „Gerichtsbarkeit“ im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 nicht auf das Staatsgebiet beschränkt, sondern vertrat „vielmehr die Auffassung, dass ein Vertragsstaat der Amerikanischen Konvention für Handlungen oder Unterlassungen seiner Akteure verantwortlich sein kann, die außerhalb seines Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder Wirkung entfalten“. Sie stellte dabei klar, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die Europäische Kommission für Menschenrechte bei der Beurteilung des Geltungsbereichs des Artikels 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Fall Zypern gegen Türkei dieser Auslegung des Begriffs „Gerichtsbarkeit“ anschlossen.

Im gleichen Sinne argumentiert auch die Völkerrechtskommission (VRK) in den „Artikelentwürfen über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen“, in denen es heißt, dass ein Staat extraterritoriale Verantwortung trägt, wenn er keine angemessenen Schritte unternimmt, um einen unter seiner Leitung oder Kontrolle stehenden Rechtsbrecher zu warnen und zu bestrafen.

In der Allgemeinen Bemerkung Nr. 31 des VN-Menschenrechtsausschusses wurde bei der Auslegung des Geltungsbereichs der mit dem IPbpR eingegangenen Verpflichtungen gleichfalls festgestellt: „Die Vertragsstaaten sind aufgrund von Artikel 2 Absatz 1 verpflichtet, [die Rechte] zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass ein Vertragsstaat die im Pakt verankerten Rechte achten und jeder Person gewährleisten muss, die der Gewalt oder faktischen Kontrolle dieses Vertragsstaats untersteht, selbst wenn sie sich nicht im Gebiet des Vertragsstaates befindet […], gleich unter welchen Umständen diese Gewalt oder faktische Kontrolle erlagt wurde…“ (2004).

Der Ausschuss zu Überwachung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung kam beispielsweise zu dem Schluss, dass sowohl Kanada als auch die USA extraterritoriale Verantwortung für die Verletzungen der Rechte von indigenen Völkern tragen, die von ihren transnationalen Unternehmen in anderen Ländern begangen wurden (Schlussfolgerungen Kanada 2007, Schlussfolgerungen USA 2008).

International besteht tatsächlich eine Tendenz, die extraterritorialen Staatenpflichten bei Menschenrechtsverletzungen immer weiter auszulegen, und zwar in dem Sinne, wie er vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten zu den Rechtsfolgen des Baus einer Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten und im Fall Demokratische Republik Kongo gegen Uganda formuliert wurde. In beiden Fällen vertrat der IGH die Auffassung, dass gemäß dem IPbpR, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) und dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes eine extraterritoriale Verantwortung der Staaten ausgelöst wurde. Der IGH stellte gleichfalls fest, dass alle Staaten nach allen internationalen Menschenrechtsabkommen und nach dem Völkergewohnheitsrecht extraterritoriale Menschenrechtsverpflichtungen haben, ganz gleich, ob sie das Gebiet, in dem der Verstoß stattgefunden hat, besetzt halten oder nicht.

Das Ständige Tribunal der Völker ist der Ansicht, dass all diese Grundsätze auf die Heimatstaaten der in Mexiko tätigen transnationalen Unternehmen anwendbar sind, womit sich ihre extraterritoriale Verantwortung begründen lässt.

Das Tribunal ist schließlich der Auffassung, dass diese Verantwortlichkeiten sogar in die rechtliche Kategorie der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gemäß dem vom mexikanischen Staat ratifizierten Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs eingeordnet werden können. Dabei handelt es sich nämlich um Verbrechen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden, und dies ist bei den in Mexiko massenweise begangenen Morden, Massakern, willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Entführungen durchaus der Fall.

8.4. Verantwortung internationaler Institutionen

Das internationale System, das die Vereinten Nationen bilden, hat den Auftrag, die Menschenrechte zu schützen, und gründet seine Legitimität auf die Geltung dieser Rechte, doch in Instanzen des Systems selbst herrschen Praktiken, die ihnen eindeutig zuwiderlaufen. Im Falle Mexikos ist dies festzustellen in Bezug auf die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds, bei denen Normen und Praktiken gelten, die eindeutig gegen die Menschenrechte verstoßen.

Weitere Einrichtungen wie die Welthandelsorganisation richten sich ausschließlich nach den Regeln des Marktes, ohne die Menschenrechte dabei zu berücksichtigen.

Die Übereinkommen, Verträge und Vorschriften über den Freihandel und Investitionen nähren im Verbund mit den Verfügungen, Anpassungsmaßnahmen und bedingten Darlehen der internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen die Macht der transnationalen Unternehmen und höhlen die Entscheidungssouveränität der Bürger aus.

Das Ständige Tribunal der Völker unterstreicht, dass diese Institutionen als internationale juristische Personen ebenso wie die Mitglieder der Einzel- oder Kollegialorgane, die die Entscheidungen treffen, für Verletzungen der bürgerlichen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und umweltbezogenen Rechte, die sie – vorsätzlich oder grob fahrlässig – begehen oder zu deren Begehung sie beitragen, rechtlich verantwortlich sind.

9. EMPFEHLUNGEN

9.1. Internationale und regionale Organisationen

1. Der Menschenrechtsausschuss und die weiteren vertraglich vereinbarten Kontrollgremien, insbesondere der Ausschuss gegen Folter, der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der Ausschuss über das Verschwindenlassen, sollten die von Mexiko und der mexikanischen Zivilgesellschaft regelmäßig vorgelegten Berichte eingehend prüfen und an die bereits an Mexiko gerichteten Empfehlungen anschließen. Der Unterausschuss zur Verhinderung von Folter sollte Mexiko einen Besuch abstatten, um sich von der Lage im Land selbst ein Bild zu machen.

2. Die Mandatsträger der Sonderverfahren (unter anderem die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen, die Arbeitsgruppe zur Frage des Verschwindenlassens von Personen, die Sonderberichterstatter über außergerichtliche Hinrichtungen, über die Förderung und den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, über die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, über die Lage von Menschenrechtsverteidigern, über die Gewalt gegen Frauen, über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) sollten die Lage in Mexiko analysieren, geeignete Maßnahmen empfehlen und für eine strikte Überwachung sorgen.

3. Die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs sollte die Vorverfahrenskammer um Genehmigung ersuchen, um im Zusammenhang mit der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit anhand der vorliegenden Informationen über Verbrechen, die vom mexikanischen Staat begangen wurden oder für die er mitverantwortlich ist, Ermittlungen über die seit dem 1. Januar 2006 in Mexiko bestehende Situation einzuleiten.

4. Der Interamerikanischen Menschenrechtskommission bzw. dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte wird empfohlen, die Menschenrechtslage in Mexiko über die Einzelfälle hinaus zu überwachen und für die Durchsetzung ihrer Entscheidungen und Urteile zu sorgen. Die unlängst eingesetzte Untersuchungskommission unter der Ägide der IAMRK muss bei ihrer Arbeit auf die volle in- und ausländische Unterstützung zählen können und Empfehlungen und Leitlinien für die Suche nach den verschwundenen Personen und die umfassende Wiedergutmachung für die Opfer aufstellen.

5. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) muss angesichts der Bedrohung, die seine Verunreinigung durch GVO in seinem Ursprungsland darstellt und die nicht als innere Angelegenheit Mexikos betrachtet werden kann, ihrer Verantwortung zum Schutz des natürlichen und bäuerlich erzeugten Maises nachkommen. Der Ausschuss für Welternährungssicherheit der VN/FAO muss unverzüglich handeln, um die Ursprungsgebiete und die genetische Vielfalt dieser Kulturen zu bewahren und die Rechte der Bauern zu schützen. Ebenso muss die Weltorganisation für geistiges Eigentum darauf verzichten, geistiges Eigentum an Pflanzen, Tieren oder Lebewesen gleich welcher Art geltend zu machen, und dafür sorgen, dass keine Form des geistigen Eigentums daran Anwendung findet. Im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt müssen unter Beteiligung indigener Völker und von Bauern spezielle Untersuchungen stattfinden, wie die internationale Gemeinschaft die Integrität der Ursprungsgebiete und der genetischen Vielfalt sowie die Rechte der indigenen, bäuerlichen und örtlichen Gemeinschaften gewährleisten kann.

9.2. Internationale Zivilgesellschaft und internationale Medien

1. Mexiko sollte unverzüglich in die Beobachtung und Berichterstattung einbezogen werden. Auf die internationalen Instanzen und die mexikanische Regierung sollte Druck ausgeübt werden, damit die Menschenrechte und die Rechte der Völker geachtet werden.

9.3. Mexikanische Zivilgesellschaft

1. Es sollten Prozesse des Widerstands und des Kampfes sowie eine Solidarisierung mit den Völkern, die Übergriffen ausgesetzt sind, in die Wege geleitet werden, um sich so gemeinsam für den Schutz von Mutter Erde einzusetzen. Man sollte den unverantwortlichen und maßlosen Konsum einstellen und sich der Ausplünderung durch die transnationalen Unternehmen widersetzen, nämlich durch die Schaffung einer mit Blick auf die Nachhaltigkeit der Erde und der Gemeinschaften verantwortungsvollen Nachfrage.

2. Es sollte für die Demokratisierung der Kommunikations- und Medienlandschaft in Mexiko gekämpft werden. Es sollten die im Kommunikationsbereich tätigen Organisationen und sozialen Netzwerke sowie die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Personen, die landesweit für die Kommunikation auf Gemeindeebene zuständig sind, gestärkt werden. Einer Stärkung bedarf gleichfalls die Kooperation mit Medienschaffenden, die sich zu einer echten Demokratisierung des Informationssektors in Mexiko bekennen und dies unter Beweis stellen. Es sollten Beobachtungsstellen geschaffen und Sozialaudits eingeführt werden, um das Verhalten der staatlichen, öffentlichen, kommerziellen und populären Medien genau zu verfolgen und zu belegen, wobei die Ergebnisse in der Bevölkerung verbreitet werden sollten.

9.4. Hin zu einer grundlegenden Reformierung Mexikos

Da sich der mexikanische Staat institutionell und in Bezug auf seine Legitimität in einer Krise befindet, die sich schon seit langem anbahnt und die in den letzten Wochen nach den Ereignissen von Iguala ein gravierendes Ausmaß angenommen hat, hält es das STV für dringend geboten, die grundlegende Reformierung Mexikos voranzutreiben und sich dabei an neuen Maßstäben zu orientieren. Dazu gehören die uneingeschränkte und tatsächliche Anerkennung der Menschenrechte, der Identität und der Gebiete der indigenen Völker durch die seit Jahren verschleppte Umsetzung der Vereinbarungen von San Andrés und die Anerkennung der Rolle der Frauen in diesem Prozess. Worum es geht, ist den Machtmissbrauch, mit dem ein untragbares, den kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen einiger weniger dienendes und die große Bevölkerungsmehrheit ausschließendes Modell aufgezwängt wird und die Menschen zu Abhängigkeit, Armut, Auswanderung, sozialer Gewalt und Schutzlosigkeit verdammt und ihnen Gegenwart wie Zukunft verbaut, zu stoppen und ihm entgegenzuwirken; es geht darum, die Menschenrechte und die ökologische Nachhaltigkeit wieder in den Mittelpunkt der Politik zu rücken und mit dem Ziel, Entwicklung und Wohlstand herbeizuführen und dabei für Gleichberechtigung zwischen den und innerhalb der Völker Mexikos zu sorgen, das wirtschaftliche und soziale Gefüge in Mexiko wiederherzustellen.

In diesem Sinne möchte das STV – unabhängig von den detaillierten Empfehlungen, die bereits in den verschiedenen Gutachten vorangegangener Anhörungen im Rahmen des Mexiko-Kapitels ausgesprochen wurden – eine Reihe wesentlicher Aspekte herausstreichen, die für einen solchen Neubeginn unverzichtbar sind.

Ein reformierter mexikanischer Staat sollte

1. auf allen politischen Ebenen und seitens aller seiner Gewalten wieder seine grundlegende Aufgabe erfüllen und dem Interesse der Allgemeinheit dienen, die Rechte der Bürger schützen und alles Notwendige unternehmen, um der gesamten mexikanischen Bevölkerung eine menschliche Entwicklung in Würde zu garantieren;

2. gemäß den international eingegangenen Verpflichtungen die Menschenrechte wahren und ihre Verletzung verhindern;

3. das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) in vollem Umfang umsetzen, dabei auch die große Vielfalt von Frauen in Mexiko einschließlich der etwa ethnisch bedingten oder wirtschaftlichen Diskrepanzen berücksichtigen und alle vom CEDAW-Ausschuss und von anderer Stelle an Mexiko gerichteten Empfehlungen befolgen, indem ein umfassendes Programm zur Bekämpfung der verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen aufgelegt wird;

4. die Vereinigungsfreiheit, die echte Anerkennung von Tarifverhandlungen und das Streikrecht gewährleisten; für ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld sowie für eine Bezahlung sorgen, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein menschenwürdiges Leben garantiert; die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Vertragspartei er noch nicht ist, ratifizieren, namentlich Übereinkommen Nr. 98 über das Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen, Nr. 138 über das Mindestalter hinsichtlich der Beseitigung von Kinderarbeit und Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte;

5. die im IAO-Übereinkommen Nr. 169 und in der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker aufgeführten Rechte der indigenen Völker in Mexiko tatsächlich anerkennen, insbesondere das Recht auf politische Autonomie, auf Eigentum ihres Landes und ihrer Ressourcen und auf Konsultation bei Vorhaben, die sie möglicherweise unmittelbar betreffen;

6. die Migrationsproblematik insgesamt neu angehen, sowohl im Hinblick auf Maßnahmen zur Verringerung der aus ökonomischen Gründen erzwungenen Migration als auch auf die Wahrung der Rechte von Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern und ihrer Familien, wobei besonders auf den Schutz jener Migrantinnen und Migranten zu achten ist, die sich auf der Durchreise durch Mexiko befinden;

7. das Recht auf Information und auf freie Meinungsäußerung sowie die Kommunikationsfreiheit einschließlich der Erstellung und Verbreitung von Informationen gewährleisten und mithilfe geeigneter Mittel dafür sorgen, dass eine Vielfalt der Medien sichergestellt ist und dass letztere keine frauenfeindlichen, rassenbezogenen/ethnischen, alters- oder geschlechtsspezifischen Klischees und Vorurteile verbreiten oder fördern und nicht zur Kriminalisierung der sozialen Proteste beitragen;

8. die Unterdrückung, Kriminalisierung und gerichtliche Verfolgung von Andersdenkenden, sozialen Bewegungen, Journalisten und Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten einstellen;

9. dem Kontrollverlust des Staates über sein Hoheitsgebiet einschließlich seiner Bodenschätze und natürlichen Ressourcen entgegenwirken;

10. angesichts seiner vielfältigen negativen Auswirkungen auf das Land die erforderlichen Schritte für einen Rückzug aus dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen einleiten;

11. den Privatisierungsprozess in der Industrie stoppen und wieder eine Wirtschaftsstruktur aufbauen, die den Interessen des Landes dient;

12. die Formen des Gemeinbesitzes (Ejidos und Tierras comunales) erhalten und dabei diskriminierende Praktiken gegenüber Frauen beseitigen, zur Stärkung des Agrarsektors eine Stützungspolitik für Kleinerzeuger (wieder) einführen und bei der Nahrungsmittelversorgung die Abhängigkeit verringern und die Souveränität fördern;

13. gegenüber den vergangenen, heutigen und künftigen Generationen seiner Verantwortung als Ursprungsland von Mais nachkommen und alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Beibehaltung des natürlichen Maises als wichtigste Nahrungsquelle und als kulturelles Bindeglied für den sozialen Zusammenhalt sicherzustellen. Da die weltweite Wiege des Maises, der den Völkern, die ihn zum Wohl der gesamten Menschheit schufen, als Lebensgrundlage dient, ernsthaften Gefahren ausgesetzt ist und Mexiko das genetische Reservoir für diese Säule der globalen Ernährungssicherheit bildet, muss der Anbau von GV-Mais im Land verboten werden;

14. ein umfassendes Programm zur Umweltsanierung durchführen und dabei die öffentliche Beschäftigung im Bereich der Bodendekontamination, der Wassersanierung, der Abfallwirtschaft, des Waldschutzes und der Gewinnung erneuerbarer Energien unter gleichen Bedingungen für Frauen und Männer fördern;

15. die Genehmigung wirtschaftlicher Tätigkeiten dadurch regulieren, dass Verfahren zur geschlechtergerechten Beurteilung der Umwelt- und Sozialverträglichkeit, geeignete Besteuerungsregelungen, wirksame Überwachungsmechanismen und ein System der Haftung und Entschädigung für Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen eingeführt werden;

16. alle institutionellen und rechtlichen Hindernisse sowie alle Praktiken beseitigen, die zur Fortsetzung der Straflosigkeit beitragen;

17. seinen Verpflichtungen nachkommen, schweren Menschenrechtsverletzungen nachzugehen, die Verantwortlichen zu bestrafen und den Opfern Wiedergutmachung zu leisten; wirksame Ermittlungsverfahren einsetzen und die Systeme zum Schutz und zur Überwachung der Menschenrechte reformieren;

18. das Justizsystem sowohl im Hinblick auf das Vorgehen bei der Verbrechensverfolgung als auch auf die Strafverfahrensgrundsätze wie auch auf die Ausbildung und Auswahl der Richterinnen und Richter umwandeln, indem diese mit hinreichenden Kompetenzen ausgestattet werden und die Militärgerichtsbarkeit gemäß den international anerkannten Maßstäben auf den militärischen Bereich beschränkt wird;

19. eine Politik zur Wiederherstellung des sozialen Gefüges einleiten, die den immensen Auswirkungen der Gewalt und der Menschenrechtsverletzungen begegnet, die weite Teile der Bevölkerung erleiden mussten und deren Folgen noch weit in die Zukunft reichen werden;

20. alle Rechtsvorschriften ändern oder aufheben, die der Durchführung der vorgenannten Maßnahmen im Wege stehen.

Zum Abschluss des Urteils sei auf die Worte von Luis Hernández Navarro verwiesen: „Dieses Ständige Tribunal der Völker, Kapitel Mexiko, ist gleichzeitig Zeuge und Geburtshelfer dieser neuen Realität. Sie, dort oben, haben die Uhr. Sie und wir, hier unten, haben die Zeit.“

10. DANKSAGUNG

Zum Abschluss dieses Mexiko-Kapitels, an dem über drei Jahre lang von den verschiedensten Orten aus gearbeitet wurde, sieht sich das STV in der Pflicht, insbesondere den Personen seinen Dank auszusprechen, die ehrlich und mutig ihre auf fundierten Beweisen beruhenden Anschuldigungen und Schilderungen der Ereignisse vorgebracht haben, die eine Rekonstruktion der Geschehnisse ermöglicht haben und die mit ihre Worten das Leid und den Schmerz, die durch die dramatischen Ereignisse verursacht wurden, wieder haben aufleben lassen.

Das STV bringt seine tiefe Besorgnis über die schutzlose Situation derjenigen zum Ausdruck, die für Menschenrechte kämpfen und die mit Mut und Anstand ihre Rolle als Bürger erfüllen, die sich für die Würde, die Freiheiten und die Rechte aller Mexikaner engagieren.

Das Tribunal dankt allen Teilnehmern der Voranhörungen und Anhörungen für ihre durchgängige Präsenz, ihre Aufmerksamkeit und ihre Beteiligung als Vertreter verschiedener Gruppierungen und Völker, die Teil einer umfassenden Bewegung sind, die sich dafür einsetzt, dass jeder Versuch des Vergessens unterbunden wird, dass die Forderung der Opfer nach Gerechtigkeit und Wahrheit aufrechterhalten wird und dass die Institutionen die Menschenrechte ernst nehmen.

Die Richter haben aus dieser Präsenz und der außergewöhnlichen Bürgerbeteiligung während der Arbeiten des Tribunals gelernt, dass bei der Entstehung einer Bewegung zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung die internationalen Rechtekataloge und die nationalen Verfassungen nicht nur auf dem Papier existieren, sondern zu Instrumenten für die Geltendmachung individueller und sozialer Forderungen und für den demokratischen Wandel werden.

Das Tribunal zeigt sich schließlich tief beeindruckt von der Tatsache, dass trotz der seit Jahrzehnten währenden sehr tragischen Situation ein erheblicher Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten lebendig geblieben ist und die Entschlossenheit besteht, kontinuierlich an einer Überwindung der Streitkultur und einem gesellschaftlichen Wandel zu arbeiten, um einen echten verfassungsmäßigen sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen.

Das Tribunal verpflichtet sich, die Botschaft in die Welt hinauszutragen, dass Mexiko zwar derzeit eine schwierige Situation durchlebt und die Gefahr besteht, dass die Gewalt gegen die Bevölkerung noch zunimmt, dass aber aufgrund der gezeigten Entschlossenheit, dagegen vorzugehen, Optimismus herrscht, der in diesen für die Zukunft Mexikos entscheidenden Zeiten Anlass zu großer Hoffnung gibt.

Angesichts der Bedeutung und Tragweite der parallel zu den vorgebrachten Zeugnissen erhobenen Forderungen nach Gerechtigkeit beschließt das Tribunal, das Dossier, das Urteil und die Empfehlungen nicht nur den Regierungsorganen, sondern auch den folgenden Personen und Einrichtungen zuzuleiten, damit diese entsprechend ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und Befugnisse tätig werden:

• Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs

• Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen

Kontrollgremien der internationalen Menschenrechtsübereinkünfte

• Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, Sonderberichterstatter über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, Sonderberichterstatterin über das Recht auf Nahrung, Sonderberichterstatter über die Förderung und den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, Sonderberichterstatter über die Lage von Menschenrechtsaktivisten, Sonderberichterstatter über die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Sonderberichterstatterin für die Rechte der indigenen Völker, Sonderberichterstatter über die Menschenrechte von Migranten, Sonderberichterstatterin über das Menschenrecht auf einwandfreies Trinkwasser und Sanitärversorgung, Sonderberichterstatter für die Menschenrechte Binnenvertriebener, Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, Unabhängiger Experte für Menschenrechtsverpflichtungen in Bezug auf den Genuss einer sicheren, sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt, Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen, Arbeitsgruppe zur Frage der Menschenrechte und transnationaler Unternehmen sowie anderer Wirtschaftsunternehmen, Arbeitsgruppe zur Frage des Verschwindenlassens von Personen, Arbeitsgruppe für die Frage der Diskriminierung von Frauen im Recht und in der Praxis.

• Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

• Interamerikanische Kommission bzw. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte

• Präsident des Obersten Gerichtshofs (Suprema Corte de Justicia)

• Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, Europäische Kommission und Europäisches Parlament

 

GESCHEHEN ZU MEXIKO-STADT (MEXIKO) AM 15. NOVEMBER 2014
Kurzbiografie der Sachverständigen, die mit dem Vorbringen der Anklagen betraut wurden
Elena Álvarez Buylla
Promovierte in Molekulargenetik an der University of California in Berkeley, derzeit Koordinatorin des Labors für Molekulargenetik, Entwicklung und Evolution von Pflanzen am Institut für Ökologie der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM). Ehemaliges Mitglied im Beirat der mexikanischen Kommission für biologische Sicherheit (Cibiogem). Gründerin und Vorstandsmitglied der mexikanischen Vereinigung gesellschaftlich engagierter Wissenschaftler (Unión de Científicos Comprometidos con la Sociedad – UCCS) und weltweit führende Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Auswirkungen von GV-Mais in seinem Ursprungsland Mexiko.

Raymundo Espinoza
Anwalt und Politologe, spezialisiert auf Verfassungsrecht. Ehemaliger Berater der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf (Schweiz) und der Lateinamerikanischen Integrationsvereinigung in Montevideo (Uruguay). Gründer des Kollektivs solidarischer Anwälte CAUSA und Mitglied der Gruppe von Anwälten, die die Arbeiten zur Formulierung der Anklagen des Tribunals koordiniert hat.

Jorge Fernández Souza
Anwalt, Koordinator des Lehrstuhls für Recht an der Universidad Autónoma Metropolitana (UAM) in Azcapotzalco, Richter am Verwaltungsgericht des Hauptstadtdistrikts und Berater der Nationalen Kommission für indigene Angelegenheiten (Comisión Nacional de Asuntos indígenas – CONAI). Als Richter hat er die Korruption in der Justiz von innen heraus bekämpft.

Raúl García Barrios
Biologe, promovierte in Wirtschaftswissenschaften an der University of California in Berkeley, Experte auf dem Gebiet der politischen Ökologie und der institutionellen Bewältigung von Umweltproblemen. Berater sozialer Organisationen sowie ländlicher und städtischer Gemeinschaften. Forscher am Regionalzentrum für multidisziplinäre Forschung der UNAM.

Magda Gómez
Anwältin, Mitglied des Bürgenkomittees; Gründerin der Universidad Pedagógica Nacional, an der sie auch akademische Leiterin und Rektorin war; hat an Projekten sozialpolitischer Art und für mehr Gerechtigkeit für indigene Völker teilgenommen; renommierte Gastautorin der Zeitung „La Jornada“.

Luis Hernández Navarro
Anthropologe und Historiker auf dem Gebiet der sozialen Bewegungen in Mexiko, ehemaliger Anführer der demokratischen Lehrerbewegung, namhafter Journalist und leitender Redakteur (Meinung) der Zeitung „La Jornada“.

Primavera Téllez
Medienforscherin, Mitglied der Mexikanischen Vereinigung für das Recht auf Information (Asociación Mexicana por el Derecho a la Información). Setzt sich aktiv für die Demokratisierung der Medien ein. Hat auf die gefährlichen Reformen des Telekommunikationssektors weithin aufmerksam gemacht. Leitet alternative Medienprojekte.